Verschwunden in Lørenskog
So zäh kann eine packende True-Crime-Story sein
True Crime boomt! Erst an den Zeitungskiosken, dann im Fernsehen, im Kino und noch viel mehr auf den Streamingportalen, die in ihrem unstillbaren Hunger nach neuem Content alles verzehren, egal welcher Qualität – Hauptsache Frischware. In der alten Welt der Medien hätte das ZDF bei einer skandinavischen True-Crime-Serie wie „Verschwunden in Lørenskog“ wohl zugegriffen und die potenziell gediegen-düstere Kost am Sonntagabend nach 22.00 Uhr ausgestrahlt. Doch die norwegische Serie von den Schöpfern Nikolaj Frobenius und Stephen Uhlander läuft bei Netflix – was nichts Schlechtes heißen muss. Aber andererseits war man beim Streamingiganten aus Los Gatos, Kalifornien noch nie sonderlich wählerisch. Denn „Verschwunden in Lørenskog“ klingt in der Theorie hochspannend und packend, doch die Umsetzung der Geschichte gerät erstaunlich zäh und bieder.
Es ist der 31. Oktober 2018, der das Leben von Multimillionär Tom Hagen (Terje Strømdahl) für immer verändert. An diesem Tag verschwindet seine Frau Anne-Elisabeth spurlos aus ihrem gemeinsamen Haus in Lørenskog ganz in der Nähe von Oslo. Die Entführer verlangen neun Millionen Euro Lösegeld in der Kryptowährung Monero. Entgegen der Warnung der Kriminellen schaltet Hagen unauffällig die Polizei ein. Die leitende Ermittlerin Jorunn (Yngvild Støen Grotmol) verfolgt den Fall zusammen mit ihrem Kollegen Micael Delvir (Kidane Gjølme Dalva), stößt aber schnell auf Ungereimtheiten. Die Erpresser lassen sich Zeit und sind offenbar gar nicht sehr scharf auf das Lösegeld. Selbst als Hagen einen Teil der Summe zahlt, ändert sich nichts. Anne-Elisabeth bleibt verschwunden. Spuren gibt es praktisch keine. Deshalb rückt immer mehr Hagen selbst in den Verdacht, seine Frau umgebracht zu haben, weil die Ehe unglücklich gewesen sein soll und er sie mit einer lächerlichen Summe in seinem anfechtbaren Testament abgespeist hat. Sein Anwalt Svein Holden (Henrik Rafaelsen) setzt der Polizei allerdings stark zu. Neben den Beamten ermitteln auch die Journalisten, allen voran Top-Reporter Erlend Moe Riise (Christian Rubeck), der durch seine Verbindungen zur Polizei immer nah dran ist. Doch je länger die Suche dauert, desto mehr verwässern sich die dünnen Spuren und desto unübersichtlicher wird die Mördersuche.
Die wahre Geschichte der spektakulärsten Entführung Norwegens
„Verschwunden in Lørenskog“ basiert auf dem wahren Fall der 2018 verschwundenen Millionärs-Frau Anne-Elisabeth Hagen und ist für die Aufarbeitung in dieser Krimi-Serie in Teilen fiktionalisiert. In fünf rund 50 Minuten langen Episoden verfolgen die Serien-Schöpfer Nikolaj Frobenius und Stephen Uhlander der Spur der verschwundenen Frau. Es gab in Norwegen kaum einen größeren vergleichbaren Entführungsfall, deshalb klingt das Projekt erstmal vielversprechend, doch bei der Umsetzung erweist sich der True-Crime-Ursprung als problematisch, weil die Macher zwar Nebenfiguren abwandeln, aber im Großen und Ganzen an die Wahrheit gebunden sind. Und dieser mysteriöse Vermisstenfall bringt auch Jahre nach der Tat erschütternd wenig Spuren und kaum tatsächlich Greifbares.

Ist Tom Hagen der eiskalte Ehemann, der seine Frau hat verschwinden lassen? Die Mittel dazu hätte er gehabt, handfeste Beweise gibt es aber nicht. Und so tappen auch die Figuren im Niemandsland herum, als ob sie selbst nicht wissen, was sie getan haben. „Verschwunden in Lørenskog“ wirkt seltsam ziellos. Yngvild Støen Grotmol liefert als erfahrene Chefermittlerin eine solide Leistung, warum sie sich allerdings mit einer Nebenstory über ihren dementen Vater herumschlagen muss, ist unklar. Das führt die Geschichte keinen Zentimeter weiter und lenkt sie in eine Sackgasse.
„Verschwunden in Lørenskog“ fehlt der rote Faden
Überhaupt fehlt es „Verschwunden in Lørenskog“ an Fokus, weil die fünf Teile strikt nach Parteien gegliedert sind. Nach einer allgemeinen Einführung des Falls in „Die Ermittlung“ (Teil 1) geht es um „Die Berichterstattung“ der Medien (Teil 2), bei dem Christian Rubeck als Vollblutjournalist Erlend Moe Riise der Serie etwas mehr Leben eintaucht, aber in Teil 3 („Die Verteidigung“) praktisch keine Rolle spielt. Erst in Teil 4 („Die Berichterstattung: Teil 2“) rückt er wieder in den Mittelpunkt. Und als alle Spuren ins Nichts zu verlaufen drohen, tauchen in „Die Quellen“ (Teil 5) plötzlich ganz neue Verdächtige auf. So fehlt der Erzählung ein roter Faden, alles zieht sich zäh dahin, ohne wirklich uninteressant zu sein, weil der Stoff schon enormes Potenzial hat.
Vergleich man „Verschwunden in Lørenskog“ mit David Finchers thematisch ähnlich angelegtem Thriller-Meisterwerk „Zodiac“ werden die Mängel der Serie offensichtlich. Auch in „Zodiac“ kamen die Protagonisten trotz größtem persönlichen Einsatz nicht voran mit ihrer Ermittlung, aber Jake Gyllenhaal und Robert Downey Jr. spielen sich in einen Rausch aus Emotionen und sind der puren Verzweiflung nah, was den Zuschauer tief berührt – ganz abgesehen von der dichten und düsteren Atmosphäre, die einen in den Bann zieht. Bei „Verschwunden in Lørenskog“ füllt diesen Part nur Kidane Gjølme Dalva zumindest in kleinen Teilen aus, weil sein ehrgeiziger Ermittler Micael Delvir nicht immer nach den Regeln spielt und alles daran setzt, auch mit nicht ganz sauberen Methoden voranzukommen. Dieses Leidenschaft tut dem behäbigen Thriller gut.
Fazit: „Verschwunden in Lørenskog“ ist eine mittelmäßige True-Crime-Serie, die den unausgesprochenen Qualitätsanspruch von düsteren skandinavischen Thrillern wie die herausragende „Millennium“-Kino-Trilogie oder die grandiose „Kommissarin Lund“-Serie nie einlösen kann. Für hartgesottene Krimi-Fans ist die Serie einen Blick wert, um sich einen Überblick über den spektakulären realen Fall zu verschaffen.
Streaming: „Verschwunden in Lørenskog“ ist seit dem 14. September 2022 im Abo auf Netflix abrufbar.
Wertung | 2,5 / 5 |
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Produktionsland | Norwegen 2022 |
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