Werner Herzog – Radical Dreamer

2022102 minab 0,

Mitreißendes Porträt einer Regie-Ikone

Wie nähert man sich einer Ikone, die sich ihrer Rolle sehr wohl bewusst ist? Am besten frontal, dachte sich offenbar der Multikünstler Thomas von Steinaecker und schrieb eine E-Mail direkt an Werner Herzogs Homepage, um auszuloten, ob die Regie-Legende dazu bereit ist, sich von ihm filmisch porträtieren zu lassen – obwohl der gebürtige Münchner bisher alle Versuche von Filmemachern, den Mythos Werner Herzog zu ergründen, abgelehnt hatte. Doch von Steinaecker traf offenbar den richtigen Ton. „Bloß keine Peinlichkeiten“, das war das einzige, was Herzog als Bedingung stellte, wie er bei der Berlin-Premiere von „Werner Herzog – Radical Dreamer“ verriet. Und peinlich ist das Doku-Porträt mitnichten, vielmehr setzt von Steinaecker Herzog ein handwerklich und emotional wuchtiges Denkmal, das dem exzentrischen Auteur und Autor voll gerecht wird.

Thomas von Steinaecker, der auch als Schriftsteller und Comicbuchautor erfolgreich ist, hat den gerade 80 Jahre alt gewordenen Werner Herzog über den Zeitraum von mehreren Monaten zu Interviews getroffen – in seinem selbstgewählten Exil Los Angeles, aber vor allem in seiner ursprünglichen Heimat Bayern, wo der Filmemacher trotz seiner künstlerischen Flucht in die USA tief verwurzelt ist, wie von Steinaecker offen legt. Ein zentraler Teil der Gespräche findet in Sachrang statt, wo Herzog mit seiner Mutter und den beiden Geschwistern Lucki und Tilbert Stipetic vaterlos aufgewachsen ist. Diese Besinnung auf die Wurzeln tut „Werner Herzog – Radical Dreamer“ gut, denn von Steinaecker arbeitet etwas heraus, was für Herzog-Kenner schon länger offensichtlich ist: Das Trauma, dass ihn Deutschland scheinbar nach seinem Welterfolg „Fitzcarraldo“ (1982) verstoßen hat, lässt Herzog nicht los.

Herzog arbeitet gegen das eigene Vergessen

Einer der Gründe, warum er dem Porträt zustimmte, war nach eigener Aussage das angebliche Desinteresse, was ihm aus seinem Heimatland seit Jahrzehnten entgegengebracht wird. „Hier in Deutschland glauben alle, ich habe seit ‚Fitzcarraldo‘ keinen Film mehr gemacht“, sagte Herzog bei der Premiere des Films in Berlin. Mit „Lebenszeichen“ brachte er sich als junger Mann auf der Landkarte des Cinema, wenig später erlangte der Bayer mit seinem monumental-radikalen Meisterwerk „Aguirre, der Zorn Gottes“ (1972) Weltruhm. Und wer die Anfangssequenz des Abenteuer-Dramas, als ein Trupp von Konquistadoren einen schmalen Trampelpfad die fast senkrecht abfallenden Wände einer 1.000 Meter tiefen, nebelverhangenen Andenschlucht hinabsteigt, je auf der großen Leinwand gesehen hat, wird diese unfassbaren Bilder, die Kinogeschichte schrieben, nie wieder vergessen.

Kultstatus in den USA

Obwohl Herzog angibt, darüber zu stehen, kränkt ihn das Vergessen daheim offenbar doch – obwohl es nicht wirklich wahr ist. Auch in Deutschland gibt es eine hartnäckige Fangemeinde des Regie-Maestros, die auch mehr an seinem Schaffen interessiert ist als an Popkultur-Extravaganzen, wie es in Amerika der Fall ist, wo Herzog mit Gastauftritten in „The Mandalorian“ (2019) oder an der Seite von Tom Cruise als Bösewicht in „Jack Reacher“ (2012) zum Kult avancierte. Die Amerikaner lieben die Persona Herzog, die mit urbayerischem Akzent perfekt-eloquentes Englisch spricht und sie mit der verrückt-bizarren Bär-frisst-Mann-Doku „Grizzly Man“ (2005) zum Ausflippen brachte. Weil es diese Auswüchse der Verehrung in Deutschland nicht gibt, mutmaßt der Filmemacher, dass er hierzulande vergessen sei.

Werner Herzogs und die „ekstatische Wahrheit“

Ansonsten strukturiert von Steinaecker seinen Film klassisch dokumentarisch. Mit einer Stippvisite in Los Angeles beginnend arbeitet der Regisseur mehr oder weniger chronologisch Herzogs wichtigste Stationen von der Mitte der 1960er Jahre bis in die Gegenwart ab. Gleich zum Auftakt jubelt von Steinaecker seinem Publikum ganz nebenbei ein hübsches Oxymoron unter. Während er seinen Film durchaus nachvollziehbar „Werner Herzog – Radical Dreamer“ nennt, bekennt der Porträtierte im Stau des Molochs LA im Auto sitzend in seiner unnachahmlich fatalistischen Art, dass er praktisch nie träume – und dieses Versäumnis in der Realität in seinen Filmen nachhole. Ob dieses Nicht-Träumen tatsächlich der Wahrheit entspricht oder nur eine Erfindung Herzogs ist, bleibt nicht nachprüfbar, könnte aber auch ein exemplarisches Beispiel für die von ihm geprägte „ekstatische Wahrheit“ sein. Heißt: Herzog passt die tatsächliche Wahrheit in seinen Dokumentationen mitunter ein wenig an, um seinen Werken noch mehr dramaturgischen Drive zu geben – diese Praxis, die im klassischen Journalismus verpönt ist und mit dem Relotius-Eklat zum größten Medienskandal seit den Hitler-Tagebüchern eskalierte (siehe Kritik zu „Tausend Zeilen“), ist als filmisches Stilmittel vollkommen in Ordnung, wenn man es wie Herzog offen spielt.

Werner Herzog in „Werner Herzog – Radical Dreamer“

Weggefährten huldigen Herzog

Zahlreiche Weggefährtinnen und Weggefährten Herzogs beschreiben den früher manischen Filmemacher, der sich in der Blüte seiner Schaffenskraft nur wenig von seinem berserkernden Schauspieler-Alter-Ego Klaus Kinski unterschied. Auch Herzog kannte am Set keine Gnade und nahm keinerlei Rücksicht auf Verluste, wie Les Blank in seiner „Fitzcarraldo“-Set-Doku „Burden Of Dreams“ (1982) eindrucksvoll beweist. Doch von Steinaecker zeigt Herzog im höheren Alter gesetzter, aber kaum weniger umtriebig. Er dreht schließlich immer noch im Akkord – überall, wo man ihn lässt.

Während die Regisseure Wim Wenders („Paris, Texas“) und Volker Schlöndorff („Die Blechtrommel“) sowie seine Stammkameramänner Thomas Mauch und Peter Zeitlinger Herzogs Eigenheiten und Qualitäten als furchtlosen Filmemacher zelebrieren, erklären Joshua Oppenheimer („The Act Of Killing“) und Chloe Zhao („Nomadland“) seine Arbeitsweise und die Bedeutung für die Generationen nach den großen alten Männern des deutschen Films. Seine dritte Ehefrau Lena Herzog, die im Film oft an seiner Seite ist, erdet die Doku mit privaten Einblicken. Aber auch Herzogs erste Frau Martje Herzog-Grohman kommt mit Anekdoten zum Dreh von „Fitzcarraldo“ zu Wort. Das hat einen besonderen Charme.

„Best Of Herzog“ für eine neue Generation

Inhaltlich lässt sich Regisseur von Steinaecker auf einen Spagat ein. Er erzählt die absoluten Klassiker der Herzog-Welt, als seien sie neue Erkenntnisse, wie Stars wie Nicole Kidman oder Robert Pattinson manchmal glauben – vom legendären Toben Klaus Kinskis am Set von „Fitzcarraldo“ über das zerebrale Essen seines eigenen Schuhs als Folge einer verlorenen Wette, was bekanntlich sogar in der Doku „Werner Herzogs Eats His Shoe“ (1980) verewigt wurde, bis hin zu seiner Schusswunde, die er während eines Outdoor-Interviews in Los Angeles erlitten hatte und lapidar als „not significant“ einschätzte. Das führt zum einzigen echten Kritikpunkt – „Werner Herzog – Radical Dreamer“ bietet für Herzog-Ultras kaum Neues, sondern bereitet das Altbekannte nur sehr stilvoll auf – mit einem Abstecher ins literarische Werk des Cineasten. Und wer sich fragt, warum Herzog während es gesamten Films englisch spricht, während alle anderen in ihrer Muttersprache reden: Dieses Zugeständnis mussten die Produzenten an den weltweiten Markt machen, sonst wäre der Film wohl nie entstanden. Herzog selbst bezeichnet diese Unwucht in der Erzählung als „Wunde“, kann mit dem Kompromiss aber ebenso wie von Steinaecker gut leben.

Fazit: Regisseur Thomas von Steinaecker gelingt mit „Werner Herzog – Radical Dreamer“ ein mitreißendes filmisches Porträt des legendären Werner Herzog – er arbeitet seine Filmgeschichte mit viel Liebe zum Detail und einem feinen Gespür für die Person Herzog für die große Leinwand auf, um diesen grandiosen Filmemacher auch jüngeren Generationen näher zu bringen.

Deutscher Kinostart von „Werner Herzog – Radical Dreamer“: 27. Oktober 2022

Wertung 4 / 5
Produktionsland

Deutschland/Großbritannien 2022

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