The Fabelmans
Feel-Good-Nostalgie, Ehedrama, Coming-Of-Age: Spielberg erleuchtet die Leinwand mit Magie
Steven Spielbergs Coming-Of-Age- und Familiendrama „The Fabelmans“ hat autobiografische Züge, heißt es. Doch dahinter steckt mehr. Die Namen der Protagonisten sind zwar geändert – aber wer sich die Ereignisse im Film genauer anschaut, stellt erstaunt fest, dass sich fast alles so oder so ähnlich in der Kindheit und Jugend des legendären Regisseurs zugetragen hat. Um seine eigene Autobiografie zu inszenieren, muss man schon ein ausgemachter Exzentriker sein, oder? Das ist Spielberg bekanntlich nicht, aber ein herausragender Unterhalter, der den Ort Kino immer zu etwas Besonderem macht. Und genau dieses Versprechen löst er mehr als zweieinhalb Stunden lang ein – und ganz nebenbei ist „The Fabelmans“ ein mitreißendes Lehrstück über das Filmemachen. Es ist unmöglich, sich nicht von der Energie und dem Gestaltungswillen des Protagonisten anstecken zu lassen. Je länger das Drama dauert, desto magischer erleuchtet Spielberg die Leinwand – bis zur ikonischen Schlussszene mit Sammy Fabelman (alias Steven Spielberg) und einem ruppigen John Ford (grandios gespielt von David Lynch), der dem Schüler eine so prägnante Lektion über Kunst erteilt, dass sie kein Zuschauer je vergessen wird. Schöner kann man einen Film nicht beenden.
New Jersey, 1952: Die Familie Fabelman führt ein behütetes, aber etwas chaotisches Leben. Vater Burt (Paul Dano) ist ein ruhiger, ausgeglichener Typ, doch der Computeringenieur ist mehr bei der Arbeit als zu Hause, wo die exzentrische Mutter Mitzi (Michelle Williams) auf die drei Kinder Reggie (als Kind: Birdie Borria, als Teenager: Julia Butters), Natalie (als Kind: Alina Brace, als Teenager: Keeley Karsten) und Sammy (als Kind: Mateo Zoryna Francis-Deford, als Teenager: Gabriel LaBelle) aufpasst – was sie eine Karriere als Konzertpianistin gekostet hat. Als bester Freund der Familie ist Burts Arbeitskollege Bennie (Seth Rogan) immer in der Nähe. Der junge Sammy hat die künstlerische Ader seiner Mutter geerbt und beginnt, Kurzfilme auf 8mm zu drehen. Als Burt einen lukrativen Job in Phoenix annimmt, ziehen die Fabelmans nach Arizona – inklusive Hausfreund Bennie. Dort werden Sammys Filme immer größer und professioneller. Während seine Mutter ihn voll unterstützt, sieht sein Vater seine Passion eher als Hobby. Mitzi zieht sich derweil immer mehr zurück und entwickelt Depressionen.

Eltern forcierten Verfilmung der Familiengeschichte
In einem Interview mit dem „Hollywood Reporter“ gestand Steven Spielberg, dass seine Eltern ihn vor ihrem Tod regelrecht „genervt“ hätten, sie auf die Leinwand zu bringen. „Wann erzählst du endlich die Geschichte unserer Familie, Steve?“, so Spielberg. Das Projekt schwelte in dem legendären Regisseur bereits seit 1999, als seine Schwester Anne (die im Film die Figur Reggie inspirierte) ein Drehbuch über die Familiengeschichte schrieb. Schließlich war es der Leerlauf während der verheerenden Corona-Pandemie, der Spielberg dazu veranlasste, gemeinsam mit Tony Kushner („Lincoln“, „München“) an einem neuen Drehbuch zu arbeiten. Und so ist „The Fabelmans“ sein erster Skript-Credit seit „A.I. – Künstliche Intelligenz“ (2001). Er erklärt: „Ich habe ernsthaft darüber nachgedacht, wenn ich einen Film machen müsste, den ich noch nicht gemacht habe, etwas, das ich wirklich auf einer sehr persönlichen Ebene machen möchte, was würde das sein? Und es gab nur eine Geschichte, die ich wirklich erzählen wollte.“
Alles beginnt mit „Die größte Show aller Zeiten“
In der satten Spielzeit widmet sich Spielberg zunächst den Ursprüngen seiner Faszination für das Medium Film, die mit seinem allerersten Kinobesuch beginnt – Cecil B. DeMilles „Die größte Show der Welt“ (1952) mit James Stewart und Charlton Heston. In einer Szene kommt es zu einem wilden Zusammenstoß zwischen einem Zug und einem Auto, der den kleinen Sammy so beeindruckt, dass er das Gesehene in seinem Kinderzimmer nachstellt und filmt. Hier ist „The Fabelmans“ von einer wohligen Nostalgie erfüllt, wie wir sie in so vielen Filmen von Steven Spielberg schätzen und lieben. Ganz nebenbei entwickelt sich das faszinierende Figurenkabinett der so unterschiedlichen Charaktere der großen Familie. Da schaut auch Judd Hirsch („Independence Day“) als verrückter Onkel Boris („We are meschugge for art”) auf einen Sprung vorbei und verdient sich mit ein paar Minuten spektakulärer Leinwandzeit eine Oscar-Nominierung.

Vom Feel-Good-Film zum Ehedrama
Das ist gediegen-ansprechend inszeniert und erklärt auf mitreißende Weise, wie der Filmemacher zu einem der größten Geschichtenerzähler des Kinos werden konnte, doch der eigentliche emotionale Sog entfaltet sich erst, als Gabriel LaBelle („The Predator“) als Teenager Sammy Fabelman die Bühne betritt. Denn jetzt ist aus dem Wohlfühlfilm „The Fabelmans“ ein messerscharf beobachtetes Ehedrama geworden, in dem Michelle Williams („Manchester By The Sea“) als spleenig-exzentrische Mutter groß aufspielt. Es ist herzzerreißend, dass sie die Liebe des von Paul Dano („There Will Be Blood“) brillant spröde und liebenswert gespielten Burt Fabelman nicht mehr erwidern kann und immer mehr in Depressionen versinkt – er ist ihr größter Fan, und doch zieht es sie zu seinem besten Freund. An diesem Konflikt droht die Familie zu zerbrechen – die Spannungen sind für die Kinder kaum auszuhalten.
„The Fabelmans“ steigert sich in pure Leinwandmagie
Nach Feel Good und Drama konzentriert sich der letzte Akt auf das dritte Genre von „The Fabelmans“: Coming Of Age – übrigens das erste Mal in seiner Karriere, dass sich Spielberg ernsthaft mit diesem Thema auseinandersetzt! Und hier wird „The Fabelmans“ zum Meisterwerk, wenn der heranwachsende Sammy Fabelman als jüdischer Außenseiter nach einem weiteren Umzug an der Highschool in Kalifornien seine Probleme bekommt und kreative Wege findet, nicht unterzugehen. Der Abschlussball, die erste Liebe und der Kampf gegen die hirnlosen Sportmacker der Schule – all das inszeniert Spielberg in einer magischen Atmosphäre. Schlicht umwerfend ist die Szene, in der seine erste Freundin Monica (Chloe East) den jungen Juden Sammy mit burschikoser Vehemenz zum Christentum bekehren will – urkomisch, anrührend und wunderbar menschlich. Am Ende erreicht „The Fabelmans“ nach einer emotionalen Achterbahnfahrt einen Grad der Glückseligkeit, der das Publikum überwältigt aus dem Kino entlässt.

Fazit: Ein Jahrzehnt im Leben des Meisterregisseurs Steven Spielberg vergeht in zweieinhalb Stunden wie im Flug. Sein meisterhaftes, semi-autobiografisches Coming-of-Age-Drama „The Fabelmans“ ist zugleich eine wohltuend nostalgische Hommage an die schöpferische Kraft des Kinos, eine schmerzhafte Autopsie einer schwierigen Ehe (seiner Eltern) und ein bittersüßes Stück purer Lebensfreude. Wie sagte Denis Villeneuve so treffend: „‘The Fabelmans‘ ist ein reiner Akt künstlerischer Großzügigkeit, geschaffen von einem der größten Filmemacher unserer Zeit“. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
Deutscher Kinostart von „The Fabelmans“: 9. März 2023. Wir haben den Film bei der Berlinale 2023 gesehen.
Wertung | 4,5 / 5 |
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Produktionsland | USA 2022 |
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