Tàr

2023158 minab 12, ,

Aufregend ambivalentes Musik-Drama mit einer überragenden Cate Blanchett – ein Meisterwerk

Todd Field ist ein Phänomen. Mit nur drei Filmen hat sich der ehemalige Schauspieler („Eyes Wide Shut“) als einer der talentiertesten Regisseure seiner Generation etabliert. Fields Arbeiten zeichnen sich durch sorgfältig konstruierte Charaktere, intensive Erzählungen und eine präzise Inszenierung aus. Nach den herausragenden „In The Bedroom“ (2001) und „Little Children“ (2006) legt der Kalifornier nun mit dem grandiosen Musik-Drama „Tár“ sein ultimatives Meisterwerk vor. Cate Blanchett brilliert als eiskalte, von der Musik besessene Stardirigentin, die mit ihren inneren Dämonen kämpft und in die Mühlen der Cancel Culture gerät. Kein Wunder, dass Field den Film ohne Blanchett nicht gedreht hätte, wie er offen zugibt. Die zweifache Oscar-Preisträgerin (für „Aviator“ und „Blue Jasmine“) liefert mit der hochkomplexen und mitreißenden Darstellung der Titelheldin Lydia Tár die beste schauspielerische Leistung ihrer Karriere. Das aufregend ambivalente Porträt „Tár“ ist eine glühende Hommage an die Musik und zugleich eine eindringliche Reflexion über menschliche Tragödien.

Lydia Tár (Cate Blanchett) steht auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Sie dirigiert die Philharmoniker in Berlin und genießt weltweit einen hervorragenden Ruf als Maestro. Die Amerikanerin war Schülerin und Protegé von Leonard Bernstein, hat gerade das erfolgreiche Buch „Tár On Tár“ veröffentlicht und probt derzeit mit ihrem Orchester Gustav Mahlers 5. Sinfonie. Auch ihre Beziehung zu Sharon Goodnow (Nina Hoss), der ersten Geigerin des Philharmonischen Orchesters, verläuft harmonisch. Beide kümmern sich um Sharons Tochter Petra (Mila Bogojevic). Während Lydia von Termin zu Termin jettet, sich in New York feiern lässt oder dort Studenten in einer Masterclass unterrichtet, braut sich zu Hause in Berlin Ungemach zusammen. Von ihrer Assistentin Francesca Lentini (Noémie Merlant) erfährt Lydia vom Selbstmord der jungen Nachwuchsdirigentin Krista Taylor (Sylvia Flote). Sie hatte ihre Karriere durch eine negative Empfehlung blockiert und offenbar eine sexuelle Beziehung mit ihr gehabt, diese aber abgebrochen, als Krista zu fordernd wurde. Lydia bittet Francesca, alle E-Mails zu löschen, die Krista in ihrer Verzweiflung an beide geschrieben hat. Unterdessen muss das Orchester eine neue Cellistin finden. Die junge Russin Olga Metkina (Sophie Kauer) erweist sich als begabte Musikerin, die auch Lydias privates Interesse weckt. Sie protegiert die junge Frau.

Sophie Kauer und Cate Blanchett in „Tár“ (© Universal Pictures)

Todd Field: Sechs Oscarnominierungen mit nur drei Filmen

Todds Fields Fähigkeit, seine wenigen Werke mit tiefen Emotionen und menschlichen Erfahrungen zu füllen, hat ihm eine treue Fangemeinde und große Anerkennung in der Branche eingebracht. Welcher Regisseur hat es mit nur drei Filmen schon auf sechs Oscar-Nominierungen gebracht? Für „In The Bedroom“, „Little Children“ und „Tár“ gab es jeweils eine Nominierung für das Drehbuch, zweimal für den „Besten Film“ (als Produzent) und einmal für die „Beste Regie“ für „Tár“. Field ist ein Meisterregisseur, der nun sein Werk vollendet – mit seiner Gabe, Charaktere so sorgfältig aufzubauen, dass sie auf der Leinwand förmlich zum Leben erwachen. Seine Erzählung in „Tár“ ist so intensiv wie seine Inszenierung präzise.

Eine faszinierende Protagonistin

Field stellt seine (fiktive) Meisterdirigentin Lydia Tár als Herrscherin dar, die von der Musikwelt bewundert, aber auch gefürchtet wird. Eine Unantastbare. Eine, an der sich alle anderen orientieren. Mit totaler Hingabe an ihre Arbeit. Sie lebt und atmet ihre Musik. Ihre Meinung steht an erster Stelle. Ihre faszinierende Ambivalenz ist von der ersten Szene an präsent, doch ihre Schwächen schält Field erst nach und nach frei. Der Regisseur beweist ein feines Gespür für den Zeitgeist und fängt ganz nebenbei die Befindlichkeiten der Menschen während der Pandemie ein.

In einer der eindrucksvollsten Szenen unterrichtet Lydia Tár an der Juilliard School in New York und gerät mit einem ihrer jungen Dirigentenschüler (Zethphan D. Smith-Gneist) aneinander, der sich als Schwarzer mit der Musik Bachs unwohl fühlt, weil er den Meisterkomponisten als weißen, misogynen Cis-Mann wahrnimmt. Zwischen den beiden entwickelt sich ein brillanter Dialog, in dem Lydia zunächst kleine Nadelstiche setzt und den Studenten Max schließlich bloßstellt. Sie vernichtet ihn, so dass ihm nur ein finales „Bitch“ als Kommentar auf Lydias verbale Brutalität bleibt und er von der Bühne stürmt. Diese unerbittliche Kaltblütigkeit einer Soziopathin zeigt Lydia an vielen Stellen. Als sie den langjährigen Kapellmeister Sebastian (Allan Corduner) rausschmeißt, weil er ihr zu schwach ist, nutzt sie alle Mechanismen ihrer Macht, um sich durchzusetzen. Über die Folgen für ihre Opfer macht sie sich nie Gedanken.

Nina Hoss und Cate Blanchett in „Tár“ (© Universal Pictures)

Cancel Culture und sexueller Machtmissbrauch

Doch dieses rücksichtslose Vorgehen holt Lydia Tár irgendwann ein. Clever streut Field schon früh Gift in ihr System, indem er beiläufig die ersten E-Mails der verzweifelten Ex-Affäre Krista Taylor thematisiert, ohne dass Lydia diese besonders ernst nimmt. So funktioniert „Tár“ parallel auf zwei Ebenen. Einerseits treibt Field die Handlung mit Lydias glorreicher Karriere voran, andererseits zementiert der Regisseur mit diesen subtilen, aber sehr wichtigen Randbeobachtungen die Charakterisierung seiner Protagonistin, die sich erst viel später mit schweren Vorwürfen des sexuellen Machtmissbrauchs konfrontiert sieht und immer heftiger in die Mühlen der Cancel Culture gerät. Dabei hält sich Field mit Kommentaren zu dieser Bewegung zurück, sondern zeigt vielmehr, wie ihre Hauptfigur damit umgeht.

Blanchetts Darstellung ist vielschichtig und emotional. Ihre Darstellung von Lydias Verletzlichkeit und Stärke ist absolut fesselnd. Sie strahlt eine unglaubliche Präsenz und Energie aus und scheint völlig in der Musik aufzugehen. Ihre Körpersprache und ihr Gesichtsausdruck transportieren die Intensität und Emotionalität der Musik perfekt. Und doch ist ihr Spiel paradoxerweise subtil und fein nuanciert.

Starkes Nebendarsteller-Ensemble

„Tár“ ist trotzdem keine reine One-Woman-Show. Vielmehr ergänzen die Nebendarsteller Blanchetts ikonische Leistung, drängen sich aber nie in den Vordergrund. Am prägnantesten sind Nina Hoss („A Most Wanted Man“) als zurückhaltende Ehefrau Sharon, Noémie Merlant („Porträt einer jungen Frau in Flammen“) als emotional aufgewühlte Assistentin Francesca oder Mark Strong („Kingsman: The Secret Service“) als einflussreicher Mäzen, der sich selbst als Dirigent versucht. Aber auch die international gefeierte Cellistin Sophie Kauer, die in „Tár“ ihr Schauspieldebüt gibt, überzeugt als Lydias störrisches Protegé Olga.

Cate Blanchett in „Tár“ (© Universal Pictures)

Todd Fields brillante Inszenierung

Grundlage für die brillanten schauspielerischen Leistungen ist die herausragende Regiearbeit von Todd Field. Dem Regisseur gelingt es, Musik und visuelle Ästhetik des Films perfekt miteinander zu verbinden und eine einzigartige Atmosphäre zu schaffen, deren Spannung zunächst zart zu erahnen ist, um sich dann auf beängstigende Weise zu entladen. Dabei greift er immer wieder auf Rückblenden zurück, um die Geschichte von Lydia Tár und ihrer Familie zu erzählen und die emotionalen Konflikte der Figuren zu verdeutlichen. Beeindruckend ist auch die musikalische Umsetzung. Die eigens für den Film komponierte Filmmusik unterstreicht die Stimmungen und Emotionen der Figuren und trägt ebenso wie die Konzertsequenzen wesentlich zur Intensität bei.

Fazit: Nach 16 Jahren Pause kehrt Regisseur Todd Field mit einem Paukenschlag ins Kino zurück: Sein meisterhaftes, unglaublich intensives und fesselndes Musik-Drama „Tár“ ist nah an der Tragödie und zeigt eine virtuose Cate Blanchett als ambivalente Antiheldin mit der besten weiblichen Schauspielleistung seit Jessica Chastain in „Zero Dark Thirty“ (2012).

Deutscher Kinostart von „Tár“: 2. März 2023.

Wertung5 / 5
Produktionsland

USA 2022

Cast & Crew

Cate Blanchett

Lydia Tár

Nina Hoss

Sharon Goodnow

Noémie Merlant

Francesca Lentini

Adam Gopnik

Adam Gopnik

Julian Glover

Andris Davis

Mark Strong

Eliot Kaplan

Sophie Kauer

Olga Metkina

Allan Corduner

Sebastian Brix

Sylvia Flote

Krista Taylor

Drehbuch

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