Sonne und Beton
Eine berauschende Milieustudie mit dem Potenzial zum Kultfilm
David Wnendt hat sich mit seinen provokanten Filmen einen Namen in der deutschen Filmszene gemacht. Der Regisseur geht dorthin, wo es weh tut – in die ostdeutsche Provinz zu den Neonazis („Kriegerin“), in die siffigen „Feuchtgebiete“ nach Lesart von Charlotte Roche oder ins TV-Deutschland, das sich über einen wiederauferstandenen Hitler amüsiert („Er ist wieder da“). Sein Stil zeichnet sich durch eine innovative Erzählweise, mitunter scharfe Satire und einen subversiven Umgang mit politischen und gesellschaftlichen Themen aus. Die Verfilmung des Milieu-Romans „Sonne und Beton“ von Felix Lobrecht erscheint da nur konsequent. Zugleich ist Wnendt, dessen Werk bislang umstritten war, mit dieser süffigen Milieustudie der große Wurf gelungen. In seiner rüden Ode an die Freundschaft zeigt Wnendt das trostlose und doch aufregende Leben von vier Jugendlichen, die in der Gropiusstadt in Berlin-Neukölln zwischen Drogen, Gewalt und Armut aufzuwachsen versuchen.
Es ist der Jahrhundertsommer 2003, in der die Agenda 2010 Fahrt aufnimmt: Die drei Freunde Lukas (Levy Rico Arcos), Julius (Vincent Wiemer) und Gino (Rafael Luis Klein-Hessling) ziehen in ihrem Kiez in der Gropiusstadt in Berlin-Neukölln Ärger auf sich. Die drei schwänzen die Schule und sind auf der Suche nach ein bisschen Gras, als sie im Park von einer arabischen Gang abgefangen werden. Nach einer Tracht Prügel, die der 15-jährige Lukas einstecken muss, sind ihre regulären Dealer, die zu einer türkischen Dealerbande gehören, sauer und liefern sich kurz darauf eine Schlägerei mit den Arabern. Lukas flieht, wird aber am Ende in der U-Bahn gestellt. Er soll bis zum nächsten Tag 500 Euro Schutzgeld zahlen – das er nicht hat. Gemeinsam mit ihrem neuen Kumpel, dem Halbkubaner Sanchez (Aaron Maldonado Morales), der gerade aus Hellersdorf in die Gegend gezogen ist, schmieden die Freunde einen Plan: Sie wollen eine Ladung nagelneuer Computer aus der Schule klauen und auf dem Schwarzmarkt verkaufen.

Felix Lobrecht garantiert Authentizität aus dem Milieu
Sein Roman „Sonne und Beton“ ist unter anderem deshalb so erfolgreich, weil Felix Lobrecht, der inzwischen als Stand-up-Comedian und Podcaster („Gemischtes Hack“) sein Geld verdient, mit Akribie aus einem Milieu berichtet, das er in- und auswendig kennt. Über mögliche autobiografische Züge des Buches sagt er: „Es ist nicht meine Geschichte im Sinne von: Das ist meine Lebensgeschichte. Viele Dinge, die im Buch vorkommen und jetzt auch im Film vorkommen, habe ich eins zu eins selbst erlebt. Aber genauso viel ist frei erfunden. Ich habe immer offen gelassen, was wahr ist und was nicht. Und dabei belasse ich es auch.“ Wnendt greift das mit einer smarten Prolog-Einblendung auf: „Es war alles genau so. Oder vielleicht auch nicht.“
Direkt aus dem Kiez
Der Regisseur zeichnet ein authentisches Bild der verrohten Jugend in Berlins berüchtigter Gropiusstadt und überhöht doch bewusst den Kontext. All diese Typen gab und gibt es dort, nur besteht dieser Teil Neuköllns eben nicht zu hundert Prozent aus dieser Klientel der sozial Schwachen und Bildungsfernen, die versuchen, mit dem Recht des Stärkeren gegen das System zu überleben. Die Normalos sind hier nur Beiwerk. Aber „Sonne und Beton“ ist ein Spielfilm – und der konzentriert sich eben auf die schillernden Figuren des Bezirks. Gelegentlich übertreibt es Wnendt mit einigen Polizisten und auch mit der Figur des Schuldirektors, die hart an der Karikatur entlangschrammen, aber das gibt dem Film auch seine emotionale Süffigkeit, weil sich die vier Hauptfiguren daran reiben. Das Drehbuch schrieb Wnendt gemeinsam mit Lobrecht, so dass der raue Geist der Vorlage erhalten blieb.
Für den authentischen Sound sorgen sowohl auf der Tonspur als auch in den Dialogen Stars aus der Szene. So steuert der Rapper Luvre47, der Lukas’ kleinkriminellen Bruder Marco spielt, den Titelsong des Films bei, Rapper Lucio101 verkörpert den Dealer Cem und der ukrainische Rapper Olexesh den brutalen Gangsterboss Marek. Hinzu kommen HipHop-Stars wie Juju, NNOC, Azzi Memo, Klapse Mane oder Army Of Brothers in kleinen Rollen. Ein stetig pumpender Score treibt „Sonne und Beton“ zu den aufregend dynamischen Bildern von Kamerafrau Jieun Yi voran. Der Soundtrack ist Deutschrap – mit Sidos „Arschficksong“ als Statementsong.

Die vier Hauptdarsteller als Casting-Volltreffer
Doch das sind nur Randbemerkungen, die „Sonne und Beton“ authentisch machen. Die wichtigste Entscheidung, die Wnendt traf, war ein offenes Casting der vier jungen Hauptdarsteller vor Ort. Mit Levy Rico Arcos hat der Regisseur ein begnadetes Talent gefunden, denn Arcos bringt alles mit, was es braucht, um den Film zum Laufen zu bringen. Man nimmt ihm die Härte der Straße ab und gleichzeitig die Verletzlichkeit. Mit dem geschickten Schachzug, Lukas das Potenzial zum Abitur zu geben, schafft er eine Identifikationsfläche für das gesamte Publikum. Man fiebert einfach mit dieser Figur mit, weil man glauben möchte, dass in ihrer Ambivalenz das Gute überwiegt. Ein Erlebnis ist auch das Spiel von Vincent Wiemer, der als einfältiger Poser, Möchtegern-Gangster und Aufreißer auftritt. Wiemer wirkt als Julius manchmal in seiner Attitüde wie ein junger Ralf Richter, hat Charisma – man schaut ihm gerne zu, obwohl die Dummheit seiner Figur schwer in Worte zu fassen ist. Und doch bleibt dieser Typ mit der ultrakurzen Zündschnur realistisch.
Überzeugende Milieu-Studie
Auch wenn „Sonne und Beton“ einem klassischen Plot folgt, dessen roter Faden Lukas’ Schutzgeldproblem mit den Arabern ist, tragen viele kleine Szenen am Rande zur gelungenen Milieustudie bei. Gino leidet unter seinem cholerischen und prügelnden Alkoholiker-Vater Henry (David Scheller), Julius wird von seinem älteren Bruder, bei dem er lebt, unterdrückt, während Lukas mit den laschen Ratschlägen („Der Klügere gibt nach“) seines Loser-Vaters Matthias (Jörg Hartmann) nichts anfangen kann. Nur Sanchez hat es zu Hause bei seiner fürsorglichen alleinerziehenden Mutter Gaby (Franziska Wulf) besser. Ansonsten hängen sie rum, dröhnen sich mit Drogen und Alkopops zu, versuchen Mädchen aufzureißen (Julius: „Ich bin Möbelpacker. Wie kann ich euch beim Ausziehen helfen?“) oder „bezahlen“ einen Taxifahrer auch mal mit einer Ladung Reizgas ins Gesicht – selbst wenn Wnendt in dieser Szene das Neuköllner Ghetto romantisiert.

Fazit: Mit seinem berauschenden Milieudrama „Sonne und Beton“ über die Jugend in der Gropiusstadt von Berlin-Neukölln im Jahr 2003 wandelt Regisseur David Wnendt auf den Spuren von „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, „Trainspotting“ und „Kids“. Ein Film mit Kultpotenzial – auch weil Wnendt abseits des Milieus einfach eine mitreißende Geschichte erzählt.
Deutscher Kinostart von „Sonne und Beton“: 2. März 2023. Wir haben den Film bei der Berlinale 2023 gesehen.
Wertung | 4 / 5 |
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Produktionsland | Deutschland 2023 |
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