Roter Himmel

Ein grandioser Sommerfilm, der zum Abgesang an die Unbekümmertheit wird

Manchmal braucht es nur Sekunden, um instinktiv zu entscheiden, ob einem ein Film gefällt oder nicht. Musik, Stimmungen, ein Gefühl von etwas?! In Christian Petzolds Künstler-Tragikomödie „Roter Himmel“ reicht ein Song, eine Einstellung und ein Satz: „Hier stimmt was nicht.“ Zu den hypnotischen Klängen der österreichischen Indie-Pop-Band Wallners (mit „In My Mind“) stürzen sich zwei Freunde in der brütenden Sommerhitze der Ostsee-Provinz in ein Abenteuer, das alles verändern wird. Und der geplatzte Motor ihres Autos in der Eröffnungsszene ist nur ein erstes Fanal für das, was kommt. Selten war einer von Petzolds Filmen leichter, beschwingter, geistreicher und amüsanter – und doch bleibt der Regisseur trotz weniger Strenge irgendwo der Berliner Schule treu und präsentiert einen mitreißenden Sommerfilm, der mit einer nicht vorhersehbaren Wendung plötzlich Tiefe und Schwere bekommt. Das ist großes Kino, das das Publikum gleichermaßen beglückt und emotional im Extrembereich fordert.

Der Berliner Autor Leon (Thomas Schubert) will den Juni mit seinem besten Freund Felix (Langston Uibel) in einem etwas abgerockten Waldhaus in Ahrenshoop an der Ostsee verbringen, um dort sein zweites Buch fertig zu schreiben. Eigentlich möchte Felix während der Auszeit von der Großstadt an seiner Bewerbungsmappe für die Kunsthochschule arbeiten, doch stattdessen genießt er das beschauliche Leben in der Sommerhitze am Meer. Er beginnt eine zwanglose Beziehung mit dem Rettungsschwimmer Devid (Enno Trebs). Zu Leons Ärger sind die Freunde nicht allein im Haus, auch die Eisverkäuferin Nadja (Paula Beer) verbringt den Sommer dort. Seine Nervosität wegen des bevorstehenden Besuchs seines Verlegers Helmut (Matthias Brandt) lässt Leon in Form von schlechter Laune an seiner Umwelt aus. Er hat Angst, dass sein Manuskript nicht gut genug ist.

Corona verzögert Dreharbeiten

Das Arthouse-Urgestein Christian Petzold („Barbara“, „Phoenix“) sieht „Roter Himmel“ als zweiten Teil einer losen Romantik-Trilogie, die er mit „Undine“ (2020) begonnen hat. Aufgrund der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie verzögerten sich die Dreharbeiten zu „Roter Himmel“, da sich Petzold in seinen sehr intimen und sensiblen zwischenmenschlichen Themen eingeschränkt fühlte: „Ich will Körper sehen. Das kann ich nicht mit Masken machen und deshalb will ich das realistisch inszenieren“, sagte er am Rande des New York Filmfestivals. Wie wichtig diese Freiheit in der Inszenierung ist, zeigt sich auf der Leinwand. Denn „Roter Himmel“ lebt von den subtilen Stimmungen zwischen den Figuren, die sich von einer Minute auf die andere ändern können. Und da müssen sich die Schauspieler natürlich bewegen können.

Thomas Schubert, Paula Beer, Langston Uibel und Enno Trebs in „Roter Himmel“ (© Piffl Medien)

Maskerade und der Blick dahinter

Petzold zeigt die Figuren, ihre Maskerade und nach und nach den Blick dahinter. Da sagt der mürrisch-abweisende Leon zur fröhlichen Nadja Sätze wie „Die Arbeit lässt es nicht zu“, als sie ihn fragt, ob er mit an den Strand komme. Er weiß im selben Moment, wie bescheuert seine herablassende Antwort ist, verschanzt sich aber hinter einer Fassade der Arroganz. Jeder im Publikum hat schon beim ersten Blick Leons auf Nadja gesehen, dass er sich unsterblich in sie verliebt hat. Dieses unterschwellige Spannungsfeld lotet Petzold den ganzen Film über aus. Leon hält sich eigentlich für zu gut für eine junge Frau, die Eis an der Strandpromenade verkauft und in einem Hotel arbeitet, andererseits rechnet er sich kaum Chancen aus, weil sie viel attraktiver ist als er.

Der Abgesang an die Unbekümmertheit

Die Befindlichkeiten wechseln ständig, denn Petzold baut immer wieder kleine Wendungen in seine Geschichte ein, mit denen er das Publikum überrascht – mit Fakten oder Details. Exemplarisch für diese leichtfüßige Vielschichtigkeit ist eine Szene, in der Nadja Leon die Erlaubnis abringt, sein Buch „Club Sandwich“ lesen zu dürfen. Danach steht sie mit finsterer Miene vor ihm und sagt, als er sie nach der Qualität des Manuskripts fragt: „Du weißt doch selbst, dass das Bullshit ist.“ Doch diese an sich schon beeindruckende Einstellung, die den überheblichen und doch unsicheren Leon irritiert, hat noch eine zweite Ebene, die sich erst später durch eine weitere Wendung offenbart.

Das ist das Faszinierende an „Roter Himmel“: Petzold zelebriert die Unbekümmertheit und gelöste Stimmung an der Ostsee vor dem Hintergrund einer Feuerkatastrophe, die immer mal wieder am Horizont aufflackert, auch in atmosphärisch überragenden Bildern. In einer ikonisch inszenierten Szene stehen Leon, Felix, Nadja und Devid im bläulich schimmernden Halbdunkel auf dem Vordach des Ferienhauses und blicken in den glutroten Himmel. „Die kriegen das Feuer nicht unter Kontrolle“, kommentiert Devid melancholisch. Es ist ein ebenso magischer Moment wie eine andere Nachtaufnahme, in der die Freunde mit bunt phosphoreszierenden Schlägern in der Dunkelheit Federball spielen und einfach Freude am Leben haben. Mit dieser für ihn ungewohnten Leichtigkeit verhandelt Petzold die großen Themen der Millennials, die er in einen Abgesang auf die Unbeschwertheit münden lässt und die Figuren wie Zuschauer am Ende emotional stark fordert.

Thomas Schubert und Paula Beer in „Roter Himmel“ (© Piffl Medien)

Überragendes Ensemble

Getragen wird „Roter Himmel“ von einem grandiosen Ensemble. Der Österreicher Thomas Schubert („Das finstere Tal“) überragt als grummeliger Nachwuchsschriftsteller Leon im Zentrum der Geschichte und fasziniert trotz seiner miesepetrigen Art am meisten, weil man in jeder Szene spürt, dass das Abweisende nur Fassade ist. Die wie immer wunderbare Paula Beer („Undine“, „Bad Banks“) spielt als Nadja die große Unbekannte. Irgendwie ahnt man, dass hinter ihr mehr steckt, als man auf den ersten Blick sieht. Beer transportiert das nicht über die Dialoge, sondern lässt es elegant unterschwellig mitschwingen. Langston Uibel („Unorthodox“) und Enno Trebs („Das weiße Band“) ergänzen die beiden als Nebenfiguren dieses Quartetts mit viel Unbekümmertheit und Lebensfreude.

Fazit: Christian Petzold liefert mit seinem Berlinale-Beitrag „Roter Himmel“ eine meisterhaft nuancierte und mit vielen kleinen und großen Überraschungen gespickte, brillante Charakterstudie, die zugleich als mit feinem Humor angereicherter Sommerfilm unterhält. Petzold schildert leichtfüßig wie nie zuvor die Befindlichkeiten einer ganzen Generation und beendet mit dem abrupten Wechsel zum bleischweren Melodram die gefeierte Unschuld jäh.

Deutscher Kinostart von „Roter Himmel“: 20. April. Wir haben den Film bei der Berlinale 2023 gesehen.

Wertung4,5 / 5
Produktionsland

Deutschland 2023

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