Past Lives
Die herzzerreißendste, ehrlichste und berührendste Romanze seit langer Zeit
In einer der gefühlt unzähligen großartigen Szenen von Curtis Hansons grandioser Tragikomödie „The Wonder Boys“ (2000) sitzen Michael Douglas und Tobey Maguire in einer Bar und erzählen sich absurde Geschichten über „Vernon“ (Richard Knox) – einen Typen, der dem strauchelnden Literaturprofessor und seinem schrulligen, hochbegabten Studenten außer Hörweite gegenübersitzt. Das ist urkomisch – vor allem, als sie später in der Handlung tatsächlich auf „Vernon“ treffen. Die Struktur und Spannung dieser wunderbaren Szene schnappt sich Regisseurin Celine Song als monolitisches Element für ihren Debütfilm „Past Lives“. In dem koreanisch-amerikanischen Liebesdrama eröffnet sie mit einer ganz ähnlichen Situation. Zwei Männer und eine Frau sitzen nachts in einer New Yorker Bar und unterhalten sich (für die Beobachter nicht hörbar) – in welcher Beziehung sie zueinander stehen, ist unklar. Wer ist mit wem zusammen? Sind die zwei mit asiatischen Wurzeln Geschwister oder ein Paar? Ist der andere nur ein Freund? Knapp zwei Stunden später schließt Song mit dieser Einstellung und löst auf – und das Publikum hat in der Zwischenzeit das beste Kinodebüt einer Regisseurin seit vielen, vielen Jahren gesehen. Denn „Past Lives“ ist nicht nur ein schonungslos berührender Film, sondern auch ein herausragend gespieltes und sorgfältig inszeniertes Charakterdrama von ergreifender Ehrlichkeit – ohne Klischees, ohne unsinnige Stolpersteine im Drehbuch oder sonstigem Nonsens der üblichen Hollywood-Schnulzen.
Ende der 1990er Jahre in Seoul: Die zwölfjährige Young Na (Moon Seung-ah) und ihr seelenverwandter Freund Hae Sung (Leem Seung-min) sind unzertrennlich. Umso härter trifft es den Jungen, als Young Nas Künstlereltern (Je Hye Choi und Ahn Min-Young) beschließen, nach Toronto auszuwandern. Die Wege der Kinder trennen sich. Zwölf Jahre später nimmt der Student Hae Sung (jetzt: Teo Yoo) über Facebook Kontakt zu Young Na (jetzt: Greta Lee) auf, die inzwischen als Nora in New York versucht, als Dramatikerin erfolgreich zu sein. Der Zauber der Kindheit ist sofort wieder da, auch wenn die Verbindung nur über Skype besteht. Doch wieder bricht der Kontakt ab. Nora hat inzwischen den jüdischen Romanautor Arthur (John Magaro) geheiratet und lebt mit ihm in einer kleinen Wohnung in Manhattan. Doch weitere zwölf Jahre später will Hae Sung Urlaub in New York machen – und Nora treffen.
Epische Love Story in drei Zeitebenen auf zwei Kontinenten
Das Schicksal spielt in koreanischen Liebesfilmen oft eine große Rolle. „Past Lives“ ist zwar eine amerikanische Produktion, aber das Herz dieser koreanisch-amerikanischen Geschichte schlägt vor allem in Südkorea. Und dort gilt das Konzept des In-Yun, das Schicksal und Beziehungen regelt, vor allem, wenn es um die Verbindung zu früheren Leben geht. Sowohl Young Na als auch Hae Sung kokettieren im Film mit dieser Theorie. Um diese Dreiecksbeziehung zwischen Hae Sung, Young Na alias Nora und ihrem Mann Arthur spinnt Regisseurin Celine Song eine epische Liebesgeschichte, die sich auf drei Zeitebenen über mehr als zwei Jahrzehnte auf zwei Kontinenten entfaltet. Und jetzt kommt der Clou: Was auf dem Papier manchmal furchtbar kitschig klingt, ist es auf der Leinwand überhaupt nicht, denn Song vermeidet konsequent vorhersehbare Klischees und verleiht ihren Figuren eine herzzerreißende Menschlichkeit und Natürlichkeit.

Greta Lee, Teo Yoo und John Marago: Schauspieltrio überragt
Die Dramatikerin Song greift in ihrer Geschichte auf eigene Erfahrungen zurück – auch sie wurde in Südkorea geboren und emigrierte mit zwölf Jahren nach Kanada. Mit diesen autobiografischen Zügen verdichtet sie die fiktive Geschichte zu einem faszinierend ehrlichen Charakterdrama mit einer verdammt starken Frauenfigur im Zentrum. Und Greta Lee („Money Monster“) ist schlicht umwerfend als Nora, hin- und hergerissen zwischen den Welten und Kulturen, ihren zwei Seelen und zwei geliebten Männern. Die absolute Unmittelbarkeit ihres Spiels macht ihre Zerrissenheit für das Publikum in jeder einzelnen Szene spürbar. Lee hat eine unglaubliche Chemie mit dem nicht minder überragenden Teo Yoo („Die Frau im Nebel“). Sein Hae Sung ist kein liebestoller Tölpel, sondern ein ernsthafter junger Mann, der sein halbes Leben lang seiner großen Liebe hinterherläuft – ohne sich dabei, wie in herkömmlichen Liebeskomödien üblich, zum Idioten zu machen. Um diese Feinfühligkeit abzurunden, gibt Song auch dem Dritten im Trio viel Würde. Denn John Magaro („The Big Short“) ist nicht der böse und emotional grobe Amerikaner, der dem Liebesglück des Traumpaares im Wege steht und irgendwann vom Drehbuch entsorgt wird, sondern ein guter Ehemann, der seiner geliebten Frau mit einem gewissen Maß an Verständnis begegnet.
Atmosphärisches Meisterwerk
So schafft „Past Lives“ eine eindringliche Wahrhaftigkeit, die an Richard Linklaters „Before“-Kulttrilogie erinnert. Doch neben den großartigen schauspielerischen Leistungen und der frisch erzählten Geschichte lebt der Film auch von einer magischen Atmosphäre, wie man sie vielleicht seit Sofia Coppolas Meisterwerk „Lost In Translation“ nicht mehr gesehen hat. Der Film verbreitet Stimmungen, die Bilder aus Seoul sind ebenso faszinierend wie die aus dem New Yorker East Village – ein bisschen modernes „Harry & Sally“, kein Wort ist zu viel. Um diese auf der Leinwand förmlich greifbaren Emotionen der Figuren zu provozieren, griff Regisseur Song am Set zu harten Maßnahmen. Die Film-Kontrahenten Teo Yoo und John Magaro durften sich vor dem Dreh ihrer gemeinsamen Szene nicht kennen lernen, um ihre erste Begegnung so real wie möglich zu gestalten – und das hat funktioniert. Auf der Leinwand spürt man das Unbehagen, die Unsicherheit und die unterschwellige Angst vor dem Anderen, dass man als Zuschauer am liebsten betreten zu Boden schauen möchte, so sehr ist man emotional involviert.
Fazit: Celine Songs Charakterdrama „Past Lives” ist nicht mehr und nicht weniger als die herzzerreißendste, ehrlichste und berührendste Romanze seit langem – und ein so vielschichtiges und reifes Regiedebüt, wie man es sich nicht besser vorstellen kann. Ein virtuos erzählter, meisterhafter Film, der nachwirkt und niemanden kalt lässt.
Deutscher Kinostart von „Past Lives: 17. August 2023. Wir haben den Film bei der Berlinale 2023 gesehen.
Wertung | 4,5 / 5 |
---|---|
Produktionsland | USA 2023 |
There are no reviews yet.