Killers Of The Flower Moon

2023206 minab 12, , ,

Ein meisterhaft inszeniertes True-Crime-Drama mit einem kleinen Makel

Niemand steht über dem Gesetz, heißt es immer so schön. Übertragen auf Hollywood heißt das: Niemand steht über dem Studiosystem, wenn er oder sie große Filme drehen will. Das gilt für alle Regisseure – bis auf einen: Martin Scorsese! Der Maestro hat sich mit seinen 80 Lenzen eine derart exponierte Reputation erspielt, dass er jenseits aller Wirtschaftlichkeit mit Megabudgets arbeiten kann. Den 159 Millionen Dollar teuren Altherren-Gangsterfilm „The Irishman“ (2019) an der Kinokasse zu refinanzieren, war schon im Vorfeld illusorisch, also wandte sich Scorsese an die Gönner von Netflix, die seinen Film ermöglichten und sich mit dem Prestige eines exklusiven Scorsese-Films schmückten. Sein dreieinhalbstündiges historisches True-Crime-Drama „Killers Of The Flower Moon“ kostete in der Produktion sogar 200 Millionen Dollar. Als die Kosten explodierten, stieg Rechteinhaber Paramount aus dem Projekt aus und der Streamingdienst Apple+ übernahm die Finanzierung und die kreative Kontrolle. Nach einer Kinoauswertung durch Paramount läuft das Mammutwerk nun zeitnah bei Apple+, denn die 400 Millionen Dollar für den Break Even sind allein im Kino nicht zu erwirtschaften. Scorsese verfolgt seine Vision radikal und kompromisslos, was sich schon in der epischen Länge des Films zeigt. Und tatsächlich ist „Killers Of The Flower Moon“ so makellos und überragend inszeniert, dass am Ende alle Seiten zufrieden sein werden – ein Kunstwerk, das wie so oft bei Scorsese die Bosheit des Menschen in den Mittelpunkt stellt. Der Filmemacher rekonstruiert ein düsteres Kapitel amerikanischer Geschichte nach wahren Begebenheiten, in überragenden Bildern und mit großartigen schauspielerischen Leistungen – ein meisterhafter Film, der nur einen kleinen Malus hat. So unbeirrbar sich Scorsese bei der Finanzierung zeigt, so stur bleibt er bei der Figurenzeichnung: Keiner der Charaktere baut eine Bindung zum Zuschauer auf.

Oklahoma zu Beginn der 1920er Jahre: Ernest Burkhart (Leonardo DiCaprio) kehrt aus dem Ersten Weltkrieg in seine Heimatstadt Fairfax zurück. Sein Onkel, der Rinderbaron William „Bill“ Hale (Robert De Niro), verspricht ihm Arbeit innerhalb des indianischen Osage Countys, das durch Ölfunde zu unerwartetem Reichtum gekommen ist. Doch auch die weißen Siedler wollen ein Stück vom Kuchen abhaben. Viele versuchen dies, indem sie die amerikanischen Ureinwohner ehelichen. So heiratet Ernest auf Anraten seines Onkels die wohlhabende Native American Mollie (Lily Gladstone), in der Hoffnung, an ihren Reichtum zu kommen, aber auch aus aufrichtiger Liebe. Währenddessen erschüttert eine unheimliche Mordserie das Osage County Reservat. Mitglieder der Gemeinschaft erkranken und sterben auf mysteriöse Weise oder ertränken ihre Melancholie im Alkohol. Die Todesfälle greifen auch auf Mollies Familie über. Mehr als ein Dutzend Ureinwohner kommen ums Leben. Zunächst glaubt man an Zufälle, doch irgendwann lassen sich die Morde nicht mehr vertuschen. FBI-Chefermittler Tom White (Jesse Plemons) schnüffelt im Reservat herum und kommt der Aufklärung immer näher.

Robert De Niro und Leonardo DiCaprio in „Killers Of The Flower Moon“ (© Paramount Pictures)

Ein düsteres Kapitel der amerikanischen Geschichte

„Killers Of The Flower Moon“ ist die Verfilmung des Sachbuchs „Das Verbrechen: Die wahre Geschichte hinter Amerikas spektakulärster Mordserie” (2017) des Journalisten David Grann. Martin Scorseses 26. Film ist gleichzeitig sein zehnter mit Robert De Niro („Heat“) und sein sechster mit Leonardo DiCaprio („The Departed“). In drei Stunden und 26 Minuten führt uns der Meisterregisseur durch ein Stück bisher kaum beachteter amerikanischer Geschichte, an das es sich zu erinnern lohnt. In den hektischen 1920er Jahre florierten die Geschäfte, der gesellschaftliche Wandel schritt aber nur langsam voran. Der plötzliche Reichtum im Reservat durch das Öl veränderte die zwischenmenschlichen Beziehungen und die soziale Dynamik. Die einst vertriebenen amerikanischen Ureinwohner können nun selbst das Land ausbeuten und sich unermesslich bereichern. Doch die Gier greift auf allen Ebenen wie eine Seuche um sich und führt zu einer Tragödie, die sich langsam entfaltet.

Scorsese gelingt ein Geniestreich

Auf dem Weg dahin gelingt Scorsese im ersten Teil des Films ein Geniestreich: In einer sehr ausführlichen Exposition, die sich in gemächlichem Tempo entfaltet, zeichnet er ein Bild an der Oberfläche – er zeigt das Osage County als einen historisch spiegelverkehrten Mikrokosmos, in dem die Ureinwohner die herrschende Schicht der Reichen bilden und die Weißen sich ihnen andienen. Es scheint, als hätten sich alle mit diesem Gesellschaftsmodell arrangiert. Doch über die Tonspur, mit dem permanent leise und hypnotisch im Hintergrund pochenden und das Tempo bestimmenden Score von Robbie Robertson („The Irishman“), pflanzt Scorsese seinem Publikum einen Gedanken ein: Hier stimmt etwas nicht. Ganz und gar nicht! Man sieht es nicht, aber man ahnt es. Das ist einfach genial. Irgendwann setzt Scorsese kleine Nadelstiche, lässt für Sekundenbruchteile unvermittelt Gewalttaten aufblitzen, die Licht ins Dunkel der Mordserie bringen, und präsentiert Verdächtige, die dann im zweiten Teil offen auftauchen und damit das Genre klar auf Drama stellen, denn es gibt kein Rätselraten, wer die Mörder sind. Das Muster gilt auch für die Gerichtsverhandlung in der letzten Dreiviertelstunde, die zwar keine Thriller-Spannung, dafür aber zwei unterhaltsame Auftritte von Brendan Fraser („The Whale“) und John Lithgow („Cliffhanger“) bietet.

Lily Gladstone und Leonardo DiCaprio in „Killers Of The Flower Moon“ (© Paramount Pictures)

Die „weißen Männer“ versuchen das Osage County zu erobern

Dabei zeichnet der Regisseur ein düsteres Bild: Die Osage-Gemeinschaft scheint frei, wird aber zunehmend vom Reichtum korrumpiert und handelt fast naiv. Das Vertrauen in die „weißen Männer“ bröckelt nur zögerlich, selbst angesichts offensichtlicher Täuschungen. Die Verbrechen sind Warnsignale. Der Film hat trotz seiner Länge einen langsamen, aber stetigen Rhythmus, der nie langweilig wird. Scorsese enthüllt nach und nach die Bösartigkeit der menschlichen Natur und zeigt eines der vielen amerikanischen Verbrechen einer aufstrebenden Nation – die Rechtfertigung von Gewalt, Unterdrückung und Mord unter dem Vorwand des Geschäfts.

Eine Verschwörung auf offener Bühne

Die makellose Kameraarbeit von Rodrigo Prieto („The Wolf Of Wall Street“), der bewährt präzise Schnitt und das äußerst sorgfältig ausgearbeitete Drehbuch sind wichtige Bausteine für Scorseses Epos. Die komplexe Handlung entwickelt sich zunächst wie ein Krimi auf offener Bühne. Eine Verschwörung „on plain sight“, die so offensichtlich ist, dass sie fast unwirklich erscheint, die aber die Bösartigkeit eines Teils der amerikanischen Gesellschaft der 1920er Jahre widerspiegelt, die später die Grundlage für andere „Geschäfte“ wie die der Mafia, Gangster und das organisierte Verbrechen im Allgemeinen bilden sollte.

Herausragende schauspielerische Leistungen

Schauspielerisch wird der Film vom Triumvirat Leonardo DiCaprio, Robert De Niro und Lily Gladstone („Billions“) dominiert, die allesamt oscarreife Leistungen abliefern. DiCaprio sticht noch einmal hervor, weil er aus einer Rolle, die von vornherein keine Chance auf Sympathie hat, den größten Funken Menschlichkeit herausholt. Diese Zerrissenheit zwischen Ernests gemeiner Mission, die Familie seiner Frau Mollie um ihr Geld zu bringen, und der aufrichtigen Liebe, die er für sie empfindet, ist der einzige Punkt in „Killers Of The Flower Moon“, der den Zuschauer wirklich emotional mit dem Film verbindet. Denn der Rest ist bei aller Meisterschaft und Schönheit der Inszenierung kalt wie Fisch.

Robert De Niro und Jesse Plemons in „Killers Of The Flower Moon“ (© Paramount Pictures)

Auch Gladstone zeigt eine grandiose Leistung als selbstbewusste Mollie, siecht aber über weite Strecken an Diabetes dahin, während De Niro in seiner größten Schurkenrolle seit „Kap der Angst“ (1991) charismatisch den diabolischen Patriarchen gibt, die Abgründe seiner Figur aber nicht allzu lange unter dem Teppich hält. Seine Darstellung ist überragend. Er verkörpert das Böse, einen Wolf im Schafspelz, der die Heuchelei perfekt beherrscht. Außer in Ansätzen Mollie gibt es weit und breit niemanden, der sich dem Zuschauer als Identifikationsfigur für mehr als dreieinhalb Stunden Leinwand anbietet. Scorsese und seine beiden Superstars sind sich dessen bewusst, aber auch hier zeigt der Regisseur seine Sturheit, sich über Konventionen hinwegzusetzen, um seine Vision auf die Leinwand zu bringen.

Fazit: In Martin Scorseses meisterhaft-epischem True-Crime-Drama „Killers Of The Flower Moon“ taucht der Zuschauer tief in die dunkle Seite der amerikanischen Geschichte der 1920er Jahre ein. Mit einer Laufzeit von über dreieinhalb Stunden enthüllt der Film ein düsteres Kapitel, das oft übersehen wird. Die Kombination aus fesselnder Erzählung, herausragenden schauspielerischen Leistungen und dichter Atmosphäre sollte man sich unbedingt im Kino anschauen, um keinen Moment der komplexen Handlung zu verpassen.

Deutscher Kinostart von „Killers Of The Flower Moon“: 19. Oktober 2023.

Wertung4,5 / 5
Produktionsland

USA 2023

Cast & Crew

Leonardo DiCaprio

Ernest Burkhart

Robert De Niro

William Hale

Lily Gladstone

Mollie Burkhart

Jesse Plemons

Tom White

Brendan Fraser

W. S. Hamilton

John Lithgow

Staatsanwalt Leaward

Barry Corbin

Bestatter Turton

Gary Basaraba

William J. Burns

Scott Shepherd

Bryan Burkhart

William Belleau

Henry Roan

Louis Cancelmi

Kelsie Morrison

Jason Isbell

Bill Smith

Sturgill Simpson

Henry Grammer

Tatanka Means

John Wren

Pat Healy

John Burger

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