Glass Onion: A Knives Out Mystery

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Eine schrill-extravagante Agatha-Christie-Variation für die Tech- und Influencer-Generation

Als die Kacke nach seinem höchst umstrittenen „Star Wars: Die letzten Jedi“ (2017) so richtig am Dampfen war und Rian Johnson sich in einen Kleinkrieg mit aufgebrachten „Star Wars“-Fans einließ, die ihn dafür sozial-medial marterten, dass er unser aller Kindheitsheld Luke Skywalker in einen störrischen Griesgram verwandelt hatte, gelang dem Regisseur 2019 ein spektakulärer wie überraschender Befreiungsschlag. Sein kleiner, aber verdammt cleverer und höllisch unterhaltsamer Whodunit-Thriller „Knives Out“ entwickelte sich zum Phänomen – an der Kinokasse und beim Publikum. 313 Millionen Dollar spielte der 40 Millionen teure Krimi weltweit ein – das veranlasste Johnson gleich dazu, eine Fortsetzung anzuschieben. Doch durch die beginnende Corona-Pandemie vertraute der Filmemacher nicht mehr aufs darbende Kino, sondern verschacherte Teil 2 und 3 für die Rekordsumme von 469 Millionen Dollar an Netflix – inklusive kreativer Freiheit versteht sich. Einzige Bedingung des Streaminggiganten: Daniel Craig muss als Meisterdetektiv Benoit Blanc wieder mitspielen! Und so hat der Thriller „Glass Onion: A Knives Out Mystery” mit dem Vorgänger nur eines gemein: die Figur des scharfsinnig-spleenigen Ermittlers, der jetzt komplett in den Vordergrund rückt. Story, Schauplätze, Figuren – ansonsten ist alles neu, wie bei den klassischen Agatha-Christie-Verfilmungen. Zwar ist „Glass Onion: A Knives Out Mystery” nicht ganz so clever und originell wie der erste Film, begeistert aber dennoch als schrille Whodunit-Extravaganz zwischen fürstlicher Unterhaltung und beißender Gesellschaftskritik.

Der Tech-Milliardär Miles Bron (Edward Norton) hat seine engsten Freunde zu einem Rätsel-Wochenende auf eine griechische Privatinsel eingeladen. Er ist der Typ, der sich einfach mal die Mona Lisa während des Corona-Lockdowns aus dem Louvre ausleiht, um damit anzugeben. Seine Gäste sind eine bunte Mischung aus einflussreichen Promis, die an den Stellschrauben der Gesellschaft sitzen. Disruptoren nennt sich die scheinbar eingeschworene Gemeinschaft. Da sind der Men’s-Rights-Influencer Duke Cody (Dave Bautista) und seine junge Freundin Whiskey (Madelyn Cline), die Gouverneurin von Connecticut, Claire Debella (Kathryn Hahn), der Top-Wissenschaftler Lionel Toussaint (Leslie Odom Jr.), Modeikone Birdie Jay (Kate Hudson) und ihre Assistentin Peg (Jessica Henwick). Überraschend tauchen noch zwei weitere Gäste auf: Miles‘ ehemalige Geschäftspartnerin Cassandra „Andi“ Brand (Janelle Monáe), die er unsanft aus der Firma gedrängt hat, und der berühmte Privatdetektiv Benoit Blanc (Daniel Craig), der Urlaub machen will. Die Spaßgesellschaft soll einen fiktiven Mord aufklären – an Miles Bron! Doch nachdem sich das Spiel als überraschender Reinfall entpuppt, erschüttert ein echter Todesfall die Gruppe. Als Blanc seine Ermittlungen aufnimmt, wird schnell klar, dass nichts ist, wie es scheint.

„Glass Onion“: Ein Thriller mit gleich mehreren doppelten Böden

Das Schöne, aber oft auch Gefährliche an Produktionen für Streaminganbieter ist die kreative Freiheit, mit der sich Star-Regisseure ködern lassen, wenn sie für den kleinen Bildschirm inszenieren statt für die große Leinwand, wo Kinofilme hingehören. Rian Johnson („Looper”, „Brick”) nutzt seine Macht weise, dreht aber im Vergleich zu „Knives Out“ den Swag merklich auf. Fast alles bei „Glass Onion: A Knives Out Mystery” ist protzig, überhöht, überkandidelt. Das ist das Konzept! Regisseur und Autor Johnson serviert seinem Publikum eine glattpolierte Scheinwelt, die er knapp eine Stunde lang genüsslich ausstellt. Denn bis dahin passiert bis auf ein paar visuelle Schauwerte des Luxus einer griechischen Privatinsel wenig Aufsehenerregendes. Doch ganz plötzlich jagt Johnson seine Figuren ohne Ankündigung durch die erste von mehreren Falltüren – und der doppelte Boden der Story öffnet sich. Die Leichtigkeit, mit der der geniale Benoit Blanc als Spielverderber das erste Rätsel gelöst hat, weicht abrupt.

Kate Hudon, Jessica Henwick, Daniel Craig und Leslie Odom Jr. in „Glass Onion: A Knives Out Mystery“ (© Netflix)

Die Handlung eröffnet mehrere Blickwinkel

Langsam entwickelt sich „Glass Onion: A Knives Out Mystery” zu einem smarten Whodunit mit einer hochinteressanten, komplexen Erzählstruktur. Denn in der Folge dekonstruiert der Regisseur die erste Stunde seines Films mit zweiten und dritten Blicken auf das Geschehene, während er an anderer Stelle die Handlung nach vorn treibt. Und so entfaltet sich ein immer schnellerer Strudel an Informationen. Die Fakten müssen eingeordnet, teils wieder neu sortiert und auf Glaubwürdigkeit überprüft werden müssen. Es ist ein wahres Vergnügen, den Haken und Sprüngen der Geschichte zu folgen. Und gerade wenn man denkt, die Wahrheit enthüllt zu haben, öffnet sich ein weiterer doppelter Boden, während Johnson seine Red Herrings auslegt. Was tatsächlich gespielt wird, kristallisiert sich im dritten Akt heraus – das ist letztendlich nicht ganz so ausgefeilt-filigran wie bei „Knives Out“, aber dafür glänzt „Glass Onion: A Knives Out Mystery” auch mit saftiger Gesellschaftskritik und mehr Humor. Die Reichen und Schönen werden ironisch auf die Schippe genommen, Johnson setzt dabei derbe Spitzen. Das geht sogar so weit, dass viele in dem Tech-Milliardär Miles Bron eine Karikatur von Elon Musk sehen, was Filmemacher Johnson aber zurückweist. Die nicht zu übersehenden Gemeinsamkeiten mit dem vermehrt zum Größenwahn neigenden Visionär seien rein zufällig.

Feine Details am Wegesrand

Neben dem Offensichtlichen bietet „Glass Onion: A Knives Out Mystery” Details am Rande, die bei Insidern das Herz höher schlagen lassen. Da setzt Johnson eine Reminiszenz an Paul Thomas Andersons Meisterwerk „Magnolia“, indem er Edward Norton in einer Rückblende in exakt den gleichen Klamotten wie Tom Cruises hyperaktiven Motivationscoach Frank T.J. Mackey auftreten lässt und somit beiläufig einen Hinweis auf Miles Brons Charakter ausstreut oder präsentiert im Hintergrund der titelgebenden Glass-Onion-Kuppel ein Porträt, das Norton als muskelbepackten Schläger in David Finchers Kultfilm „Fight Club“ zeigt. Und die Unaufgeregtheit, mit der der Regisseur in einer Rückblende beiläufig offenbart, dass Benoit Blanc schwul ist (inklusive Cameo von Hugh Grant), hat eine unwiderstehliche Lässigkeit.

Edward Norton in „Glass Onion: A Knives Out Mystery“ (© Netflix)

Craig ragt heraus, aber auch Norton und Monáe begeistern

In seinem ersten Film in seiner Nach-Bond-Zeit zeigt sich Daniel Craig („Verblendung“, „Logan Lucky“) spielfreudiger denn je. Wieder mit seinem antrainierten Südstaatenakzent unterwegs, rückt sein Benoit Blanc im Vergleich zu „Knives Out“ mehr in den Mittelpunkt und wird zum Taktgeber der Story. Von den Nebendarstellern ragen Edward Norton („Birdman“, „American History X“) als charmanter, aber doch irgendwie schmieriger Machtmensch und Janelle Monáe („Hidden Figures“, „Moonlight“) als seine ehemalige Partnerin und nun erbitterte Rivalin aus einem exquisiten Ensemble heraus. Die Sängerin („We Are Young“) verströmt zunächst eine kühle Aura des Mysteriösen, die sich erst nach und nach mit Wahrhaftigkeit füllt.

Fazit: Mit dem doppelbödigen Whodunit-Thriller „Glass Onion: A Knives Out Mystery” schafft Rian Johnson einen modernen Agatha-Christie-Krimi im Zeitalter von Tech-Milliardären und Influencern, die auf ihre Weise die großen Räder drehen wollen. Wendung auf Wendung lässt der Regisseur auf sein Publikum los und attackiert die Gesellschaft der Oberen mit Ironie und Spott – und unterhält damit königlich.

Deutscher Kinostart von „Glass Onion: A Knives Out Mystery“: 23. November 2022.

Streaming: „Glass Onion: A Knives Out Mystery“ ist seit dem 23. Dezember 2022 im Abo auf Netflix abrufbar.

Wertung 4 / 5
Produktionsland

USA 2022

Cast & Crew

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