Das Lehrerzimmer

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Der ultimative Lehrerfilm – vom Drama zu einer griechischen Tragödie

Die Schulzeit fasziniert das Kino schon seit jeher. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich jedoch die Perspektive verändert. Standen früher meist die Schüler im Mittelpunkt von Klassikern wie „Die Feuerzangenbowle“ (1944), „Das fliegende Klassenzimmer“ (1954) oder dem 60er-Jahre-Klamauk der „Lümmel von der ersten Bank“-Reihe, hat sich der Fokus in der jüngeren Gegenwart auf die allseits gestressten Lehrer verschoben: In den Komödien „Fack Ju Göhte“ (2013 – 2017), „Frau Müller muss weg“ (2015), „Herr Bachmann und seine Klasse“ (2021) und „Eingeschlossene Gesellschaft“ (2022) zum Beispiel. Doch nun liefert Regisseur İlker Çatak mit „Das Lehrerzimmer“ den ultimativen Lehrerfilm ab, in dem er ein sorgfältig konstruiertes Drama nach und nach an den Rand einer griechischen Tragödie auswachsen lässt. Das ist herausragend gespielt, hat aber leider kleine Konstruktionsfehler – zumindest für Menschen, die wirklich nah dran sind am Thema. Zwei Aspekte der Prämisse der Geschichte sind unrealistisch – in einem Film, der so sehr von der Reflexion der Realität lebt. So ist „Das Lehrerzimmer“ mehr Lehrstück als Realismus – aber so spannend und nervenaufreibend, dass man diesen Malus verzeihen muss.

Die junge Lehrerin Carla Nowak (Leonie Benesch) ist voller Ambitionen, als sie eine siebte Klasse an einem Gymnasium übernimmt und dort Mathematik und Sport unterrichtet. Schon bald stößt die Endzwanzigerin mit ihrem offensiv vertretenen Idealismus an Grenzen. Eine Diebstahlserie stört den Schulfrieden und sorgt für Unmut. Als die Schülerinnen und Schüler ihrer Klasse vom Kollegium durchsucht werden und der türkischstämmige Ali (Can Rodenbostel) unter Verdacht gerät, weil er relativ viel Geld im Portemonnaie hat, ist Carla empört über das übergriffige Verhalten ihrer Kollegen. Mit Mühe kann der Junge die Vorwürfe halbwegs entkräften. Doch als die Lehrerin die Schulsekretärin Friederike Kuhn (Eva Löbau) dabei erwischt, wie sie Geld aus ihrer Geldbörse stiehlt, nimmt das Unheil seinen Lauf. Carla hat in ihrer Abwesenheit die Kamera ihres Laptops im Lehrerzimmer laufen lassen, und darauf ist zu sehen, wie jemand ihr Geld entwendet. Die auffällige Bluse, die die Sekretärin an diesem Tag trug, überführt sie. Doch die Frau zeigt sich uneinsichtig und streitet alles ab, wird aber dennoch suspendiert. Das belastet auch das Verhältnis zu Kuhns Sohn Oskar (Leonard Stettnisch), der der beste Schüler in Carlas Klasse ist. In der Folge kommt es zu einem emotionalen und physischen Krieg an mehreren Fronten. Das Kollegium streitet, die Schüler ergreifen Partei und Frau Kuhn und ihr Sohn schalten auf stur.

Sarah Bauerett, Leonie Benesch und Kathrin Wehlisch in „Das Lehrerzimmer“ (© Alamode)

Regisseur Ilker Çatak nutzt altmodisches 4:3-Format

Für seinen vierten Spielfilm hat sich Regisseur Ilker Çatak („Es gilt das gesprochene Wort“) an seine eigene Schulzeit erinnert und seine Erlebnisse mit denen von Co-Drehbuchautor Johannes Duncker kombiniert und in die Gegenwart verfrachtet, wo Lehrerinnen und Lehrer wegen chronischer Unterbesetzung der Schulen oft am Rande des Machbaren agieren. Diese massive Überforderung stellen die beiden Autoren in den Mittelpunkt von „Das Lehrerzimmer“ und entwickeln ein über weite Strecken hervorragend geschriebenes, extrem intensives Drama, das mit jeder weiteren Szene in eine Tragödie zu kippen droht. Eine ganze Handvoll von Beteiligten steht immer kurz vor dem Nervenzusammenbruch, weil die entstandene Situation so viel Druck verursacht. Unterstützt wird dieses Gefühl durch das alte, aber kompromisslos verengte 4:3-Bildformat, das die klaustrophobische Atmosphäre des Lehrerzimmers und auch die zwischenmenschlichen Spannungen und Konflikte innerhalb des Films noch verstärkt.

Clever konstruierte Geschichte

Die verzwickte Prämisse des Films ist äußerst geschickt konstruiert. Dass die Sekretärin Frau Kuhn zumindest Lehrerin Carla Geld gestohlen hat, ist für den Zuschauer mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit klar – hundertprozentig sicher kann man sich aber auch nicht sein, zumal Kuhns heftige Gegenreaktion weitere Zweifel sät. Der zweite Schlag in die Magengrube verpufft jedoch mit fortschreitender Handlung. Denn die heimliche Videoaufnahme, die Frau Kuhn schließlich in Bedrängnis bringt, ist streng genommen illegal. Die Diskussion darüber und die Androhung rechtlicher Schritte, die Carlas Lehrerkarriere gefährden könnten, wird jedoch von den Autoren fallengelassen, was schade ist. Insgesamt hat man den Eindruck, dass in „Das Lehrerzimmer“ viele spannende Diskussionen angestoßen werden, doch Çatak und Duncker belassen es dabei, ziehen sich am Ende einfach zurück und verstecken sich hinter der typischen Arthouse-Attitüde, alles offen zu lassen. Hier hätte man sich zumindest etwas mehr Mut gewünscht, Stellung zu beziehen.

Leonie Benesch in „Das Lehrerzimmer“ (© Alamode)

Überraschend ambivalente Hauptfigur

Denn mit der idealistischen Lehrerin Carla Nowak hat der Regisseur eine hochinteressante Protagonistin, weil sie trotz ihrer gerechtigkeitsfanatischen Einstellung durchaus ambivalent ist. Sie stellt ihre Ideologie über die Befindlichkeiten des Kollegiums, lässt immer wieder Kollegen im Stich und kann es mit ihrer Geradlinigkeit doch niemandem recht machen, weil sie mit ihrer rigorosen Art überall aneckt, obwohl sie glaubt, immer das Richtige zu tun. Das hat oft auch etwas Selbstgerechtes. Leonie Benesch („Babylon Berlin“) spielt das bravourös, der Zuschauer kann miterleben, wie sie als überforderte Lehrerin von Tag zu Tag mehr die Kontrolle verliert. Man leidet mit.

Kleine Makel hemmen Realismus

Obwohl die Geschichte, wie erwähnt, sorgfältig und geschickt konstruiert ist, trüben zwei Aspekte etwas das Vergnügen. Diebstähle wird es in Klassen- und Lehrerzimmern immer wieder geben, aber das Unglück auslösende systematische Filzen der Schüler, selbst unter angeblicher Freiwilligkeit, wird es an heutigen Schulen nicht mehr geben – es ist ebenso unrealistisch wie das hier gezeigte strategische und konfrontative Verhalten der extrem eloquenten und organisierten Schüler. Diese Kinder gibt es tatsächlich, aber nicht in der Masse, wie im Film dargestellt. Das ist schade, denn diese Mängel schmälern den Realismus des Dramas, auf den doch so viel Wert gelegt wird. Da ist David Wnendts Coming-of-Age-Drama „Sonne und Beton“, das ebenfalls im Schulmilieu spielt, im direkten Vergleich ehrlicher.

Fazit: Ilker Çataks „Das Lehrerzimmer“ ist ein beeindruckendes und nervenzerrendes Drama, das den Zuschauer durch seine ungeheure emotionale Intensität und seine eindringliche Erzählweise in den Bann zieht. Nur am nicht komplett befriedigenden Ende kommt der Regisseur nicht mehr so recht aus der Nummer heraus.

Deutscher Kinostart von „Das Lehrerzimmer“: 4. Mai 2023.

Wertung4 / 5
Produktionsland

Deutschland 2023

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