Call Jane
Ein engagiertes Frauen-Power-Drama mit einer Überdosis Wohlfühlstimmung
Das Leben in den 60er Jahren der USA ist klar geregelt. Der Mann geht arbeiten und schafft das Geld heran, die Frau wartet zuhause auf die Heimkehr des Gatten und kümmert sich ansonsten um Haushalt und Kinder. Was aber noch schwerer wiegt als die Limitierungen dieser traditionellen Rollenverteilung: Den Frauen mangelt es an Selbstbestimmungsrechten. Erst Anfang 1973 billigte das Oberste Gericht der Vereinigten Staaten im legendären Prozess Roe Vs. Wade in einer Grundsatzentscheidung den Frauen das verfassungsmäßige Recht zu, über Abbruch oder Fortführung einer Schwangerschaft selbst zu entscheiden. Vor diesem Hintergrund erzählt Regisseurin Phyllis Nagy (Drehbuchautorin von „Carol“) mit „Call Jane“ die wahre Geschichte einer Gruppe von Frauen, die Ende der 60er in Chicago im Untergrund Tausende von Schwangerschaftsabbrüchen orchestrierte. Die Filmemacherin liefert zwar ein handwerklich solides Period pic mit guten schauspielerischen Leistungen ab, trifft aber selten den richtigen Ton, weil ihr „Call Jane“ zu einem beschwingten Feel-Good-Drama ausufert, dem die Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit des komplizierten Themas nach und nach abhandenkommt.
Chicago, 1968: Die Hausfrau Joy (Elizabeth Banks) lebt mit ihren Mann Will (Chris Messina) und ihren zwei Kindern glücklich und behütet in einem Vorort. Als Joy überraschend wieder schwanger wird, kommt es zu Komplikationen, sie leidet unter einer Kardiomyopathie, die durch die Schwangerschaft verursacht wird. Die Chance, dass Joy die Geburt überlebt, liegt nach Aussagen der Ärzte bei 50 Prozent. Der Versuch, beim Beirat des zuständigen Krankenhauses aufgrund des hohen Sterberisikos einen Schwangerschaftsabbruch durchführen zu lassen, scheitert. In ihrer Verzweiflung wendet sich Joy ohne Wissen ihres Mannes an eine Organisation, die illegal für 600 Dollar Abtreibungen durchführt. Als der Eingriff durch den jungen Arzt Dean (Cory Michael Smith) problemlos gelingt, ist Joy angezogen von der Dynamik der Frauengruppe um Anführerin Virginia (Sigourney Weaver). Sie steigt ein und engagiert sich immer mehr in der Gemeinschaft. Das geht sogar so weit, dass sich Joy von Dean einweisen lässt, wie man Abtreibungen durchführt, während ihre Familie von ihren Aktivitäten nichts ahnt.
„Call Jane“ ist kein „Abtreibungsfilm“
Obwohl der Kampf der Frauen um das Recht auf Selbstbestimmung über die eigene Schwangerschaft das zentrale Thema von „Call Jane“ ist und sich kontinuierlich auf das berühmte Roe-Vs-Wade-Urteil zubewegt, sieht Hauptdarstellerin Elizabeth Banks („Die Tribute von Panem“) „Call Jane“ nicht als „Abtreibungsfilm“, sondern vielmehr als „eine Geschichte über eine Gemeinschaft von Frauen, die sich zusammentut und für eine Sache kämpft“. Also legt Regisseurin Phyllis Nagy („Mrs. Harris“) ihren Film über Female Empowerment offenbar mehr oder weniger zufällig in der Ära der 60 Jahre an und wählt das Thema der Schwangerschaftsabbrüche nur als passenden Hintergrund.

Denn genau diesen Eindruck vermittelt „Call Jane“. Der Film beginnt mit einer fantastisch gefilmten, elektrisierenden Eröffnungssequenz, in der Protagonistin Joy ein (geschütztes) Gebäude durch eine Glasdrehtür verlässt und in eine (unsichere) Demonstration gerät, bei der Polizisten unter flackerndem Blaulicht rigoros gegen aufgebrachte Aktivisten vorgehen. Joy wirkt irritiert von dem Chaos, das es ihrer geordneten Welt sonst nicht gibt. Nach diesem filmisch starken wie symbolträchtigen Auftakt funktioniert „Call Jane“ noch eine ganze Weile gut – genau so lange, wie Joy braucht, um voll in die Untergrundgruppe integriert zu werden. Nagy erzählt spannend vom Prozedere und den Problemen der Organisation, deren Ziel es ist, anderen Frauen in Not zu helfen. Wenn eine der Aktivistinnen ans Telefon geht, ist sie immer „Jane“ – das ist ein Code, um nicht mit dem richtigen Namen aufzufliegen, wenn die Polizei herumschnüffelt.
Tragische Fallhöhe wird nie deutlich
Doch dann nimmt „Call Jane“ die falsche Abbiegung. Denn je länger die Handlung fortschreitet, desto süßlicher und verklärter wird der Film. Nagy inszeniert plötzlich eine Feel-Good-Tragikomödie, in der über die kleinen, amüsanten Fallstricke der Unternehmung geschmunzelt wird. Wie verheimliche ich mein brandgefährliches Engagement vor dem Ehemann? Wie schüttle ich einen neugierigen Polizisten ab? Oder wie bringe ich das Schwangerschaftsabbrechen der ganzen Truppe bei? Der Abgrund, an dem die Mitglieder der Organisation trotz der allerbesten Absichten permanent wandeln, ist nie sichtbar. Das wirkt irritierend für das Publikum, weil diese enorme Gefahr ausgeblendet wird. Die Frauen engagieren sich immer mit einem Bein im Gefängnis stehend, was ihr Treiben sogar noch viel heroischer macht, als im Film dargestellt. „Call Jane“ mangelt es hier an menschlichem Drama. Nie wird deutlich, wie viel für die tapferen Aktivistinnen auf dem Spiel steht und welch immenses Risiko sie auf sich nehmen. So arbeitete die reale Jane-Organisation auch mit dem Psychologen Harvey Karman zusammen, der Jahre zuvor eine Abtreibung durchführte, die zum Tod einer Schwangeren führte. Für solche Missstimmungen ist hier kein Platz.

Elizabeth Banks und Sigourney Weaver überzeugen
Natürlich ist es ein Vergnügen, „Alien“-Ikone Sigourney Weaver als couragierte Frauenrechtlerin auf der Leinwand zu sehen. Denn „Call Jane“ überzeugt schauspielerisch ausnahmslos – vor allem auch durch Elizabeth Banks‘ energiegeladene Vorstellung als Hausfrau im emotionalen Wandel. Ihre stärkste Szene hat sie relativ zu Anfang, wenn ihre Joy vor einem Krankenhausrat voller alter weißer Männer antreten muss, um einen Schwangerschaftsabbruch zu erwirken. Die selbstgefälligen Herren halten ein Sterberisiko von 50 Prozent bei der Geburt für tragbar. Die Arroganz, mit der an dieser Stelle über die Befindlichkeiten einer emotional aufgebrachten schwangeren Frau hinweggebügelt wird, macht einen als Zuschauer wütend. Doch Regisseurin Nagy lässt dieses dramatische Potenzial fortan weitgehend ungenutzt, wenn sie konsequent den Weichspülgang einlegt.
Visuell kommt „Call Jane“ zwar nicht wieder an die überragenden Eröffnungsbilder heran, gefällt aber als solide ausgestatteter Historienfilm, der eine ganze Epoche auf der Ausstattungsebene wiedergibt, ohne an die stilistische Klasse beispielsweise eines „Der Eissturm“ heranzukommen, in dem Ang Lee mit Perfektion die Atmosphäre einer Ära auf die Leinwand zauberte.
Fazit: Phyllis Nagys „Call Jane“ ist ein tadellos gespieltes Frauen-Power-Drama, das zu viel Wert auf den Wohlfühlcharakter der Geschichte legt, weil so weder die historische Dimension noch die schwindelerregende Fallhöhe für das kompromisslose Wirken der Protagonistinnen spürbar werden.
Deutscher Kinostart von „Call Jane“: 1. Dezember 2022.
Seit 10. März 2023 auf Blu-ray & DVD erhältlich.
Wertung | 2,5 / 5 |
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Produktionsland | USA 2022 |
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