Bullet Train
„Thomas, die kleine Lokomotive“ erobert die hyperstylische Gangsterwelt
Der legendäre japanische Shinkansen-Schnellzug von Tokio nach Kyoto fährt exakt zwei Stunden und acht Minuten. Und der „Bullet Train“, wie er genannt wird, ist immer pünktlich. Diese Präzision bei seinen akribisch durchchoreographierten Actionszenen wird auch dem ehemaligen Stuntkoordinator und mittlerweile Regisseur David Leitch („Deadpool 2“, „Fast & Furious: Hobbs & Shaw“) nachgesagt. Deshalb ist es keineswegs verwunderlich, dass sich das Multitalent in seiner dritten Solo-Regiearbeit den „Bullet Train“ als Handlungsort für seine gleichnamige rasante Action-Thriller-Komödie ausgesucht hat. Nach der Vorlage von Kotaro Isakas Roman aus dem Jahr 2010 inszeniert Leitch eine vogelwilde Gangsterscharade mit coolen Sprüchen, rasender Action und einer starken Star-Besetzung, die noch von Superstar-Cameos veredelt wird. Gelegentlich übertreibt es Leitch mit der Coolness, die dann zum Selbstzweck verkommt, was das hervorragende Ensemble mit seinen exzentrischen Manierismen wieder wett macht.
Der Profikiller Ladybug (Brad Pitt) will eigentlich sein Leben ändern und von nun an ein friedlicheres Dasein fristen. Deshalb nimmt er von seiner vertrauten Auftraggeberin Maria Beetle (Sandra Bullock) einen vermeintlich leichten Job an, den er für seinen erkrankten Kollegen Carver erledigen wird. Ladybug soll auf einer Zugfahrt im Shinkansen von Tokio nach Kyoto einen Aktenkoffer einsammeln. Doch so einfach wie erhofft ist der Auftrag nicht. Zwar stellt Ladybug den Koffer ziemlich schnell sicher, aber die Besitzer sind überaus verärgert, weil ihr Leben daran hängt. Denn die Profikiller Lemon (Brian Tyree Henry) und Tangerine (Aaron Taylor-Johnson) müssen das gute Stück im Paket mit dem Sohn (Logan Lerman) des Triaden-Gangsterbosses „Der weiße Tod“ (Michael Shannon) in Kyoto übergeben. Die Lage verschlimmert sich für Lemon und Tangeringe noch, als der Sohn bald tot in seinem Sitz hockt. Im Zug sind noch weitere Killer an Bord, die ebenfalls mitmischen. Was „Die Wespe“ (Zazie Beetz) oder „Der Prinz“ (Joey King) im Schilde führen, ist aber zunächst völlig unklar. Kompliziert wird es, als sich „Der Wolf“ (Bad Bunny) einschaltet und Ladybug daran hindert, den Zug mit dem Koffer an der nächsten Haltestelle zu verlassen.

Spaßiger und abgefahrener als die grimmige Romanvorlage
Filmen in Zeiten der Pandemie ist nicht immer ganz einfach. Deshalb entstanden 95 Prozent der Aufnahmen von „Bullet Train“ in den altehrwürdigen Culver Studios in Culver City, wo Klassiker wie „Vom Winde verweht“ oder später „Matrix“ und „Kill Bill“ gedreht wurden – erstmals seit Jahren war hier wieder eine große Hollywood-Produktion am Start. Dort wurde nicht nur das Innere des Shinkansen akribisch nachgebaut, sondern gleich mehrere Haltestellen auf dem Weg nach Kyoto. In Japan selbst drehte nur die Second-Unit-Crew. Diese ganz speziellen Produktionsbedingungen sind dem fertigen Film aber kaum anzumerken – schließlich hatte Leitch, der die Regie vom ursprünglich angedachten Antoine Fuqua („Training Day“, „The Equalizer“) übernahm, ein stattliches Budget von 90 Millionen Dollar zur Verfügung, inklusive einer Star-Besetzung.
Der Erzählton weicht spürbar von der japanischen Romanvorlage ab, die wesentlich ernster und geerdeter ist. Die asiatischen Figuren des Buchs werden größtenteils durch westliche Hollywoodstars ersetzt, was manch empfindlicher Seele etwas sauer aufstieß, aber keineswegs die Whitewashing-Vorwürfe in der Dimension von „The Ghost In The Shell“ oder „Aloha“ auslöste. Einige warfen dem Romanautor zwar Heuchlerei vor, weil er das Geld aus Hollywood einsteckte und das Werk auch noch für offiziell gut befand, aber gleichzeitig die japanische Kultur dem Ausverkauf preis gebe.
Und Leitch eignet sich das Stück tatsächlich mit aller Macht an – was jeder gute Regisseur tun sollte – und drückt „Bullet Train“ seinen eigenen Stempel auf, indem er seine rasend-actionlastige Inszenierung bewusst over the top anlegt und auf der Dialogebene ironisch Vollgas gibt. Man hat immer den Eindruck, dass ein cooler Spruch im Zweifelsfall wichtiger ist als Plausibilität. Trotz dieser Defizite funktioniert „Bullet Train“ als knallig-buntes Entertainment prächtig, weil zunächst einmal viele der überkandidelten Gimmicks und Running Gags erstaunlich unterhaltsam und clever sind. Auf die Idee, einen knallharten Action-Thriller mit einer stimmigen und omnipräsenten Allegorie auf die Kinder-Kultserie „Thomas, die kleine Lokomotive“ zu überbauen, muss man erst einmal kommen. Chapeau!
Freakige Figuren kämpfen um die Sympathien des Publikums

Was uns zu den Hauptfiguren und einer weiteren Stärke des Films führt. Denn der Auftragsmörder Lemon ist ein exzellenter Menschenkenner, der jede Person einem entsprechenden Charakter aus dem „Thomas“-Universum zuordnet, was im späteren Verlauf noch eine zentrale Rolle spielen wird. Und so ist Brian Tyree Henry („Causeway“, „Atlanta“) auch der heimliche (Anti-)Held und offensichtliche Szenendieb von „Bullet Train“. Er strahlt eine unglaubliche Präsenz aus, man will ihn als Zuschauer einfach auf der Leinwand sehen, weil der Typ purer Fun ist. Dazu bildet Tyree Henry mit seinem ungleichen Leinwandbruder Aaron Taylor-Johnson („Kick-Ass“, „Nocturnal Animals“) ein kongeniales Gespann. Hier gelingt Drehbuchautor Zak Olkewicz („Last Voyage Of The Demeter“) ein kleines Kunststück, weil das Publikum zunächst voll auf die Hauptfigur Ladybug eingeschworen wird. Und der von Brad Pitt („Once Upon A Time… In Hollywood“, „Ad Astra“) spleenig-relaxed und voller Ironie angelegte Profikiller ist ein uneingeschränkter Sympathieträger, der gegen Lemon und Tangerine um Leben und Tod kämpft. Und das macht „Bullet Train“ bei aller tonalen Schrulligkeit so unterhaltsam, die überzeichneten Figuren sind einfach spaßig – und gleichzeitig ist „Bullet Train“ kein Kindergeburtstag, sondern ein teils blutiges Gemetzel. Diese schwierige Balance zwischen harter Erwachsenen-Action und Klamauk, wie sie früher ein Jackie Chan zelebrierte, findet Regisseur Leitch über einen Großteil des Films.
In dieses Spaßkonzept passen auch die erstaunlichen Camoes. Brad Pitt besuchte Sandra Bullock („Bird Box“) und Channing Tatum („21 Jump Street“) in ihrer Abenteuer-Komödie „The Lost City“, was die beiden für „Bullet Train“ in kleinen Rollen erwiderten. Aber auch Ryan Reynolds („Free Guy“) stattet seinem „Deadpool“-Regisseur David Leitch hier einen kurzen Leinwandbesuch ab. Diese kleinen Gimmicks sind für die Zuschauer eine Freude, weil plötzlich immer wieder prominente Gesichter mit einem Wow-Effekt auftauchen und den Unterhaltungswert hochhalten.
Fazit: „Bullet Train“ ist Eskapismus in Reinkultur – ein absurder, vollkommen amoralischer Spaß mit knallharter, blutiger Action. Ein hyperstylish inszeniertes Unterhaltungswerk, das von seinem entfesselten All-Star-Ensemble beseelt ist und dem so über einige Holprigkeiten hinweggeholfen wird.
Deutscher Kinostart von „Bullet Train“: 4. August 2022
Seit 27. Oktober auf Blu-ray & DVD erhältlich.
Wertung | 3,5 / 5 |
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Produktionsland | USA/Japan 2022 |
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