Bones And All

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Horror, Liebe und Kannibalismus – „Bones And All“ ist der außergewöhnliche Film des Jahres

Wenn der italienische Arthouse-Regisseur Luca Guadagnino in einem Horrorfilm Kannibalen durch den Mittleren Westen der USA streunern lässt, ist nach seinem „Suspiria“-Remake und seinem Coming-Of-Age-Drama „Call Me By Your Name“ klar, dass es sich hier unmöglich um stereotypen 08/15-Brachial-Grusel von der Stange handeln kann. Denn „Bones And All“ ist nicht weniger als der außergewöhnlichste Film des Jahres, ein an die Nieren gehender Horrorfilm, der aber im Herzen vielmehr ein Liebesfilm und Coming-Of-Drama ist, ein betörend schönes und doch tieftrauriges Road Movie, das berührt und hervorragend gespielt ist.

In den 1980er Jahren zieht der alleinerziehende Familienvater Leonard Yearly (André Holland) mit seiner 17-jährigen Tochter Maren (Taylor Russell) durch den Mittleren Westen der Vereinigten Staaten: Maryland, Minnesota, Ohio, Indiana, Kentucky! In Virginia sind die beiden einsamen Seelen heimisch geworden, doch eines Tages müssen sie doch wieder überstürzt den Bundesstaat verlassen. Nachdem Maren sich mit ihrer Klassenkameradin Kim (Madeleine Hall) angefreundet hat, wird sie zu einer kleinen spätabendlichen Mädchen-Party eingeladen – die damit endet, dass Maren der schockierten Kim einen Finger abbeißt und bis auf den Knochen runternagt. Maren ist ein „Eater“, sie treibt die Gier nach Menschenfleisch. Ihr Vater erträgt sein Schicksal nicht mehr und verlässt seine Tochter kurz vor ihrem 18. Geburtstag. Auf sich allein gestellt, findet Maren zunächst bei dem alternden Eater Sully (Mark Rylance) Unterschlupf, bevor sie auf der Suche nach ihrer leiblichen Mutter auf den Slacker Lee (Timothée Chalamet) trifft. Sie freunden sich an und ziehen fortan gemeinsamen durchs Land.

Timothée Chalamet und Taylor Russell brillieren

Mit „Bones And All“ verfilmt Luca Guadagnino Camille DeAngelis‘ gleichnamiges Jugendbuch aus dem Jahr 2015 – nutzt die Story des Romans aber nur als loses Gerüst für seine Filmhandlung. Mit Timothée Chalamet und Michael Stuhlbarg (beide aus „Call Me By Your Name“), Jessica Harper („Suspiria“) und Chloë Sevigny („We Are Who We Are“) setzt der Regisseur auf vertraute Kräfte in seinem Ensemble, das zunächst aber in der ersten halben Stunde von Hauptdarstellerin Taylor Russell („Escape Room“) dominiert wird. „Bones And All“ ist die Geschichte ihrer Figur Maren – bis sie den Weg von Eater Lee kreuzt und Timothée Chalamet („Dune“) die Leinwand mit seinem gefühlt unendlichen Talent erleuchtet. Der gebürtige New Yorker ist nicht umsonst der beste und charismatischste Schauspieler seiner Generation. Er übernimmt mit seiner Ankunft im Film zunächst mit seiner Präsenz die Kontrolle und erst nach und nach kämpft sich Taylor Russell wieder zurück, um schließlich doch noch auf Augenhöhe mit dem Hochbegabten zu kommen. Die vielbeschworene Chemie zwischen den beiden Jungstars ist auch eine Triebfeder für „Bones And All“.

Timothée Chalamet und Taylor Russell in „Bones And All“ (© Warner Bros.)

Kannibalismus als Metapher

Denn das Groteske liegt hier in den krassen Gegensätzen, deren Balance sich in der Theorie nahezu ausschließt. Man fiebert emotional mit den Protagonisten mit und verdrängt ihre Grausamkeiten, die sich wie eine starke Sucht manifestieren. Auch wenn die Eater für Außenstehende von ihren Mitmenschen nicht zu unterscheiden sind (sie können sich gegenseitig riechen), sind sie Monster, die zum Töten getrieben werden, weil ihr Durst nach Menschenfleisch auf längere Distanz nicht zu bändigen ist. Das zeigt Guadagnino in einem halben Dutzend Gewaltspitzen, die kurz und hart einschlagen. Man mag manchmal kaum hinsehen, der Regisseur erspart seinem Publikum nichts und dennoch haben diese Szenen nie etwas Plakatives. Der Kannibalismus ist nur eine Metapher, die vom Zuschauer nach eigenem Gusto ausgefüllt werden kann. Vielleicht für Drogen, Lust oder die Faszination an Gewalt – das spielt im Grunde keine Rolle, das Menschenessen ist nur ein austauschbarer Katalysator und nicht zentraler Bestandteil der Motivation der Charaktere wie zum Beispiel bei Hannibal Lecter in „Das Schweigen der Lämmer“. Das Ansiedeln der Geschichte in der Reagan-Ära Amerikas ist sicherlich auch kein Zufall. Doch der Kühle dieser Zeit setzt Guadagnino etwas Idealistisch-Träumerisches entgegen.

Tieftraurige Liebesgeschichte voller Optimismus

Denn trotz gelegentlicher Blut- und Gräueltaten ist „Bones And All“ im Herzen ein Liebesfilm über zwei Außenseiter, die einen Platz am Rande der Gesellschaft einfordern, obwohl sie wissen, wie toxisch sie für ihre Umwelt sind. Das führt wie bei Lee trotz ausgestelltem Selbstbewusstsein zu tiefgehenden Unsicherheiten und legt Traumata offen, die immer wieder unter der Oberfläche hervorscheinen. Die Eater sind sich ihrer selbst sehr bewusst. Einige versuchen nach einem Kodex zu leben, andere sind weniger streng zu sich selbst. Aber Guadagnino lässt nie einen Zweifel daran, wie gefährlich diese Gattung Mensch ist, deshalb durchzieht „Bones And All“ eine permanente Atmosphäre der unterschwelligen Bedrohung, die in eine zentrale Sequenz in der Mitte des Films mündet, in der Lee und Maren auf ihrer Reise auf den Menschenfresser Jake (Michael Stuhlbarg) und seinen Kompagnon Brad (David Gordon Green) treffen. Sie belauern sich wie wilde Tiere, während sie vorgeben, Spaß an einem Abend am Lagerfeier bei Bier und Musik zu haben. Hier strahlt „Bones And All“ die unheimliche Gefährlichkeit eines Terrorfilms aus und jagt einem einen Schauer über den Rücken, wenn Stuhlbarg als Jake von sich selbst berauscht erklärt, wie es ist, einen Menschen komplett zu verspeisen, mit Knochen und allem – das ist das Arthouse-Pendant von Hannibal Lecters Chianti-Monolog.

Taylor Russell und Mark Rylance in „Bones And All“ (© Warner Bros.)

Während sich die Geschichte in Episoden ohne treibende Handlung eher mäandernd durch die ruralen Fly-Over-States der USA bewegt, weil es vielmehr um Stimmungen und die Erforschung von Seelenlandschaften geht, sorgen die kleinen Gastauftritte immer wieder für Highlights – aber nicht nur der schon beschriebene von Michael Stuhlbarg. Chloë Sevigny hat nur eine Sequenz, nutzt diese aber für ein kleines Kunststückchen, indem sie in dieser Kürze ein komplettes Charakterporträt von Marens leiblicher Mutter Janelle abliefert, die sich in der Psychiatrie verstümmelt hat, um keinen Schaden mehr anrichten zu können. Die Intensität dieser Konfrontation mit Taylor Russells Maren ist beängstigend.

Fazit: Luca Guadagninos „Bones And All“ ist eine extravagante Arthouse-Mischung aus Horror-Drama, Road Movie und Coming-Of-Age-Romanze – herausragend gefilmt in atmosphärischen Bildern, die an Terrence Malicks „Badlands“ erinnern. Der Regisseur erzählt hier von einer großen menschlichen Tragödie, die unabdingbar ist, während aller schrägen Poesie zum Trotz die immer wieder aufblitzenden Gewaltexplosionen das Zuschauen nie gemütlich werden lassen – ein verstörender Film, der einem in die Magengrube fährt.

Deutscher Kinostart von „Bones And All“: 24. November 2022.

Wertung 4,5 / 5
Produktionsland

Italien/USA 2021

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