Auf der Adamant

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Ein einfühlsamer, aber konfliktarmer Einblick in die kranke Psyche

Der gefeierte französische Dokufilmer Nicolas Philibert („Sein oder Haben“) hat sich im Laufe seiner Karriere als Meister einfühlsamer Charakterstudien und tiefgründigen Erzählens erwiesen. Sein jüngster Dokumentarfilm „Auf der Adamant“, der bei der Berlinale 2023 mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde, vereint alle Stärken seines bisherigen Schaffens. Philibert taucht ein in die Welt der „Adamant“, einer einzigartigen Tagesstätte für psychisch kranke Menschen auf einem Schiff mitten auf der Seine in Paris. Hier finden die Patienten Zuflucht und haben die Möglichkeit, in kreativen Workshops ihre Talente zu entfalten und den Kontakt zur normalen Alltagswelt aufrechtzuerhalten. Philibert wählt radikal die Perspektive des stillen Beobachters, stellt kaum Fragen, erklärt nichts, sondern lässt die Szenerie einfach auf den Zuschauer wirken – dieser Ansatz ist ebenso faszinierend wie manchmal auch fordernd.

„Auf der Adamant“ begleitet über mehrere Monate im Sommer und Herbst 2021 einige Patienten, die in dieser unkonventionellen Einrichtung Schutz und Gemeinschaft gefunden haben: dem Centre de jour L’Adamant in Paris, das auf einem 650 Quadratmeter großen, in der Seine verankerten Schiff liegt. Sie malen, musizieren, betreiben einen Filmclub, tanzen und kochen gemeinsam. Die Patienten kommen hierher, um soziale Gemeinschaft zu erleben. Nicolas Philibert zeigt eine bemerkenswerte Intimität in der Art und Weise, wie er diese ausgewählten Charaktere begleitet und offensichtlich ihr Vertrauen gewinnt, um sich vor der Kamera zu öffnen.

„Auf der Adamant“ (© Grandfilm)

Regisseur Philibert ist ein stiller, aber genauer Beobachter

Der Film dringt tief in die Psyche seiner Protagonisten ein und zeigt, wie kreative Selbstentfaltung und gemeinschaftliche Aktivitäten für Menschen mit psychischen Erkrankungen eine lebensverändernde Bedeutung haben können. Da ist zum Beispiel François, der den Film mit einer mitreißenden Punk-Interpretation eines 70er-Jahre-Rocksongs auch eröffnet. Der 57-Jährige steht zunächst etwas verloren vor seinem Publikum aus Mitpatienten und medizinischem Personal auf der „Adamant“ und singt. Dabei steigert sich der Mann, der kaum mehr als eine Handvoll Zähne im Mund hat, in seinem Gesang immer mehr in die Ekstase. Später, im Gespräch mit Regisseur Philibert, erzählt er offen von sich. „Geisteskranke haben keine Familie. Sie kommen mit ihrer Familie nicht klar. Ich will nicht verallgemeinern, aber so ist es“, sagt er. Auf ihn jedenfalls treffe das zu, antwortet er auf die Frage des Filmemachers. Sein Vater ist der Regisseur Gérard Gozlan. Ein Vorbild, dem er nie entsprechen konnte.

„Ohne starke Medikamente würde ich durchdrehen. Nur so kann ich mit Ihnen reden. Sonst halte ich mich für Jesus. Mit Vöglein um mich herum, hoch im Himmel. Medikamente sind wichtiger als jedes Gespräch“, gesteht er. Ohne Pillen würde er in die Seine springen oder anderen einfach nur Ärger machen. Er fühlt sich auf dem Schiff so wohl es eben geht und ist sich seiner selbst sehr bewusst, während man als Zuschauer in jeder Einstellung seine innere Unruhe spürt, die immer kurz vor dem Ausbruch zu stehen scheint. Philiberts unaufdringliche Low-Key-Inszenierung ermöglicht es dem Zuschauer, in die Welt dieser Menschen einzutauchen und ein tieferes Verständnis für ihre Erfahrungen zu entwickeln. In kürzester Zeit entstehen kleine Charakterporträts, wenn auch nicht alle so packend sind wie das von François.

„Auf der Adamant“ (© Grandfilm)

Ein Film mit moralischem und politischem Unterbau

Philiberts Ansatz spiegelt sein langjähriges moralisches, politisches und pädagogisches Engagement wider. Seine Geduld in der filmischen Beobachtung ist bewundernswert, denn er verfolgt die Bewegungen und Interaktionen innerhalb dieser Gemeinschaften genau, fast wie ein Wissenschaftler unter dem Mikroskop. Der Film wechselt zwischen spannenden Momenten und ruhigeren, bewusst dahinplätschernden Passagen und könnte ebenso gut mehrere Stunden dauern, typisch für Werke, die auf der Methode der Langzeitbeobachtung basieren – ähnlich denen von Frederick Wiseman („Ex Libris“), dem Branchenführer des Direct-Cinema-Stils. Die politische Botschaft wird am Ende deutlich, wenn ein Text darauf hindeutet, dass aufgrund der Umstrukturierung des französischen Gesundheitssystems die Einrichtung auf der „Adamant“ von der Schließung bedroht ist. Philiberts Arbeit kann somit als stiller Protest gegen diesen Akt verstanden werden. Er sieht die Einrichtung als „Ort des Widerstands“ gegen das Schubladendenken, dem psychisch kranke Menschen ausgesetzt sind.

Vielleicht ist das der Hintergrund, vielleicht aber auch nicht, denn „Auf der Adamant“ porträtiert einen Haufen Menschen mit einer verdammt kurzen Zündschnur. Trotzdem gibt es im ganzen Film so gut wie keine Konflikte. Sogar der Kaffee, der den Franzosen heilig ist, wird von einem Patienten in den höchsten Tönen gelobt: „Der schmeckt wie beim Bäcker.“ Von außen betrachtet wirkt die „Adamant“ wie eine Utopie – ein eigenes Universum, in dem sein darf, was sein soll. Ob Philibert die Realität nur abbildet oder glattbügelt, bleibt an dieser Stelle offen.

„Auf der Adamant“ (© Grandfilm)

Fazit: Mit seinem entschleunigten Dokumentarfilm „Auf der Adamant“ beweist Nicolas Philibert einmal mehr, dass er ein Meister der geduldigen Beobachtung und des Eintauchens in das Leben seiner Protagonisten ist. Der Filmemacher bietet einen stillen und doch berührenden Einblick in eine einzigartige Institution und protestiert auf seine Weise gegen die aktuelle Situation des französischen Gesundheitswesens.

Deutscher Kinostart von „Auf der Adamant“: 14. September 2023.

Wertung 3,5 / 5
Produktionsland

Frankreich/Japan 2023

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