Anatomie eines Falls

2023151 minab 12, ,

Eine atemberaubend doppelbödige menschliche Tragödie über Wahrnehmung und Wahrheit

In einer der vielen ikonischen Szenen von Paul Verhoevens süffigem Thriller-Spektakel „Basic Instinct“ fährt die Kamera unter das Bett der mordverdächtigen Schriftstellerin Catherine Tramell (Sharon Stone in der Rolle ihres Lebens) und zoomt auf einen Eispickel! Damit ist auch dem letzten Zuschauer klar: Sie war es … und hat alle um sich herum manipuliert! Ganz so einfach macht es sich Regisseurin Justine Triet in ihrem Thriller-Drama „Anatomie eines Falls“ nicht – auch wenn die Konstruktion der Geschichte durchaus an die Mechanismen von „Basic Instinct“ angelehnt ist – nur in einer subtileren Arthouse-Variante, gepaart mit einem Hauch von Suspense-Altmeister Hitchcock. Zweieinhalb Stunden lang kreist der atemberaubend dicht inszenierte und vor allem von Hauptdarstellerin Sandra Hüller herausragend gespielte Alpen-Krimi, der zum Gerichtsdrama wird, um die Themen Schuld und Wahrheit. Der Film windet sich, lässt in Nuancen immer wieder eine neue Sicht auf die Dinge zu und entlässt das Publikum am Ende mit reichlich Gedanken für die kommenden Tage. Mit „Anatomie eines Falls“ gelingt Triet ein makellos-komplexes Meisterwerk, das zu Recht mit der Goldenen Palme der Filmfestspiele von Cannes ausgezeichnet wurde. Auf der Reise in die tiefsten Abgründe menschlicher Neugier erzählt die Regisseurin eine fesselnde Geschichte über die dunklen Seiten einer schicksalhaften Ehe und wirft dabei die Frage aufwirft, ob manche Geheimnisse für immer ungelöst bleiben müssen.

Sandra Voyter (Sandra Hüller) ist eine bekannte deutsche Schriftstellerin. Sie lebt mit ihrem elfjährigen, sehbehinderten Sohn Daniel (Milo Machado Graner) und ihrem französischen Mann Samuel Maleski (Samuel Theis) in einer abgelegenen Hütte in den verschneiten französischen Alpen. Eines Tages bekommt Sandra Besuch von der jungen Studentin Zoé Solidor (Camilla Rutherford). Sie will die Autorin für ihr Forschungsprojekt interviewen, die Atmosphäre ist locker und gelöst. Doch der genervte Samuel funkt dazwischen und stört das Gespräch mit lauter Musik vom Dachboden, wo der Professor gerade renoviert. Sandra bricht das Interview ab und vertagt es auf ein anderes Mal im nahen Grenoble. Als Daniel von einem Spaziergang zurückkommt, findet er seinen Vater tot vor dem Haus liegen – offenbar aus dem obersten Stock gefallen. Absichtlich gestoßen oder gestürzt? Oder Selbstmord? Die Kriminalpolizei nimmt die Ermittlungen auf, und nach Ungereimtheiten in Sandras Geschichte wird sie zur Hauptverdächtigen. Es kommt zum Prozess, in dem ihr alter Freund Vincent (Swann Arlaud) sie als Anwalt vertritt.

Swann Arlaud und Sandra Hüller in „Anatomie eines Falls“ (© Plaion Pictures/Wild Bunch/Central)

Gnadenlose Dekonstruktion einer Ehe

Regisseurin Justine Triet („Sibyl“) beschreibt die Grundidee ihres Films, den sie gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Arthur Harari geschrieben hat, als, „einen Albtraum durchleben“. Gekonnt spielt sie mit dem Gedanken, dass wir Menschen nie ganz verstehen können, außer uns selbst. „Anatomie eines Falls“ ist mehr als ein Mysterium, es ist eine detailverliebte Betrachtung einer Ehe aus allen möglichen Blickwinkeln. Sie wird Schicht für Schicht in ihrer ganzen Komplexität enthüllt – bis sie kollabiert. Dabei ist die Inszenierung nie manipulativ, in entscheidenden Momenten nimmt sich Triet sogar zurück, um die Situation auf den Zuschauer wirken zu lassen. Die Filmemacherin stellt tiefgründige Fragen über die Kommunikation von Paaren und deren mögliche Auswirkungen auf das Ende einer Beziehung.

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Sandra Hüller überragt alle

Dabei regt Triet mit ihrer Arthouse-Inszenierung das Publikum an, eigene Schlüsse zu ziehen und mit den eigenen Vorurteilen zu jonglieren. Die begrenzten Rückblicke sind wie kleine Puzzlestücke, unvollständig und vor allem interpretierbar und fordern uns heraus, unsere eigenen Entscheidungen zur Einordnung der Protagonisten zu hinterfragen. „Toni Erdmann“-Star Sandra Hüller meistert ihre Rolle als ambivalente Hauptfigur grandios, indem sie gekonnt zwischen Verzweiflung und Distanz wechselt. Diese Gratwanderung trägt dazu bei, die Ungewissheit über ihre wahren Absichten aufrecht zu erhalten. Sie ist nie ganz durchschaubar. Mit dieser herausragenden, nuancierten Leistung spielt sich Hüller in den Kreis der Oscar-Favoriteninnen.

Starkes Ensemble

Der Genrefilm hat aber auch eine unterschwellige feministische Ebene und entlarvt nach und nach die sexistischen Vorurteile der Gesellschaft, indem jede Unvollkommenheit von Sandra als Beweis gegen sie verwendet wird. Das beginnt schon mit der brillanten Eröffnungssequenz des Interviews, das mit Samuels Tod endet. Sie ist bisexuell, okay. Aber das macht sie sofort verdächtig, mit der jungen Studentin geflirtet zu haben, was nach den Bildern auf der Leinwand durchaus möglich ist – oder eben nur eine Fehlinterpretation. Auch darin liegt der Reiz von „Anatomie eines Falls“. Der Zuschauer muss sich seine Wahrheiten hart erarbeiten, Triet serviert hier nichts Unumstößliches (außer dem Tod von Samuel Maleski). Gleichzeitig scheint der tote Ehemann immun gegen Kritik zu sein. Das starke Ensemble an Hüllers Seite trägt den Film. Swann Arlaud als jovialer Anwaltsfreund Sandras, der aber sein Handwerk versteht, Samuel Theis als in Rückblenden auftauchender Ehemann, Milo Machado Graner als fast blinder Sohn des Paares und nicht zuletzt Antoine Reinartz als scharfsinniger und aggressiver Staatsanwalt tragen mit überzeugenden Leistungen dazu bei, dass der Zuschauer an der Glaubwürdigkeit Sandras zweifelt.

Antoine Reinartz in „Anatomie eines Falls“ (© Plaion Pictures/Wild Bunch/Central)

Streit als schauspielerische Höhepunkt des Films

Absolutes Highlight (von vielen) ist eine eindringliche Rückblendensequenz: Zu Recherchezwecken hatte Samuel hin und wieder Dialoge zu Hause mit seinem Handy aufgenommen. Triet visualisiert diese Audiodatei während des Indizienprozesses. Generell fühlte sich Samuel in der Ehe unterdrückt, weil er keine Zeit für sich hatte, obwohl er für ein Buch recherchieren wollte und sich stattdessen um den gemeinsamen Sohn kümmern musste. Die vor Gericht abgespielte Aufnahme dokumentiert das Dilemma des Paars. Der heftige Streit, der harmlos und fast harmonisch beginnt, eskaliert zu einer Situation, in der sich beide Eheleute emotional völlig entblößen und jedem klar wird, dass das Ende naht. Man bekommt als Zuschauer eine Gänsehaut bei dieser Intensität. Das ist ganz großes Schauspiel, was Hüller und Thies hier abliefern. Danach muss man erst einmal nach Luft schnappen und seine Gedanken sortieren. Und doch bleibt alles Interpretationssache.

Fazit: „Anatomie eines Falls“ ist ein meisterhaft inszeniertes Krimi- und Gerichtsdrama mit einem unglaublich präzisen Drehbuch und herausragenden schauspielerischen Leistungen. Die elegante Inszenierung lädt das Publikum ein, gemeinsam mit einer wenig vertrauenswürdigen Protagonistin ein Mysterium zu entschlüsseln – eine atemberaubend doppelbödige menschliche Tragödie über Wahrnehmung und Wahrheit auf vielen Ebenen.

Deutscher Kinostart von „Anatomie eines Falls“: 2. November 2023.

Wertung5 / 5
Produktionsland

Frankreich 2023

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